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BFH-Beschluss vom 1.4.2010 (II B 168/09) BStBl. 2010 II S. 558
AdV
wegen ernstlicher Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes
Ein
mit ernstlichen Zweifeln an der Verfassungsmäßigkeit einer dem angefochtenen
Steuerbescheid zugrunde liegenden Gesetzesvorschrift begründeter Antrag auf
AdV ist abzulehnen, wenn nach den Umständen des Einzelfalles dem Interesse
des Antragstellers an der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nicht der
Vorrang vor dem öffentlichen Interesse am Vollzug des Gesetzes zukommt, ohne
dass es einer Prüfung der Verfassungsmäßigkeit bedarf.
FGO § 69.
Vorinstanz: FG München vom 5. Oktober 2009
4 V 1548/09 (EFG 2010, 158)
Sachverhalt
I.
1
Der Kläger, Antragsteller
und Beschwerdeführer (Kläger) erhielt am 5. Januar 2009 von seinem Bruder
25.000 € geschenkt. Der Beklagte, Antragsgegner und Beschwerdegegner (das
Finanzamt - FA -) setzte für diesen Erwerb unter Berücksichtigung eines
Vorerwerbs von 143.560 € aus dem Jahr 2008 durch Bescheid vom 20. April 2009
gegen den Kläger Schenkungsteuer in Höhe von 4.590 € fest. Er wandte dabei
den in § 16 Abs. 1 Nr. 5 des Erbschaftsteuer- und Schenkungsteuergesetzes
i.d.F. des Erbschaftsteuerreformgesetzes vom 24. Dezember 2008 (BGBl I 2008,
3018) - ErbStG - für den Erwerb der Personen der Steuerklasse II (vgl. § 15
Abs. 1 ErbStG) vorgesehenen Freibetrag von 20.000 € und den in § 19 Abs. 1
ErbStG bestimmten Steuersatz von 30 % an. Das Finanzgericht (FG) hat über
die Sprungklage gegen den Bescheid noch nicht entschieden.
2
Den Antrag des Klägers, die
Vollziehung des Schenkungsteuerbescheids auszusetzen, weil ernstliche
Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des ErbStG bestünden, lehnten das FA und
das FG ab. Das FG führte zur Begründung seines in Entscheidungen der
Finanzgerichte 2010, 158 veröffentlichten Beschlusses aus, die beantragte
Aussetzung der Vollziehung (AdV) scheide trotz möglicherweise bestehender
verfassungsrechtlicher Bedenken gegen das ErbStG aus, weil dem öffentlichen
Interesse an einer geordneten Haushaltsführung der Vorrang vor dem
Aussetzungsinteresse des Klägers zukomme. Da die zentrale Tarifvorschrift
des ErbStG betroffen sei, würde sich die Gewährung von AdV auf sämtliche auf
der gegenwärtigen Fassung des ErbStG beruhende Festsetzungen von Erbschaft-
und Schenkungsteuer auswirken. Dies würde bis zu einer endgültigen
Entscheidung über die Verfassungsfragen durch das Bundesverfassungsgericht
(BVerfG) zu jährlichen Steuerausfällen von rd. 4 bis 5 Milliarden € führen.
Sollte das BVerfG die Verfassungswidrigkeit des ErbStG feststellen, werde es
zudem voraussichtlich entsprechend seiner bisherigen Entscheidungspraxis die
Neuregelung nur für verfassungswidrig, nicht aber für nichtig erklären und
die weitere Anwendung bis zu einer Neuregelung zulassen. Dies müsse bei der
Entscheidung über die beantragte AdV berücksichtigt werden.
3
Mit der Beschwerde verfolgt
der Kläger sein Aussetzungsbegehren mit der Begründung weiter, die Tarifnorm
des § 19 Abs. 1 ErbStG sei wegen eines Verstoßes gegen den allgemeinen
Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) verfassungswidrig.
Der Gesetzgeber habe die Gleichbehandlung der Vermögensarten für
Erbschaftsteuer- und Schenkungsteuerzwecke auf der Bewertungsebene verfehlt
und die Verschonungsregelungen gleichheitswidrig ausgestaltet. Zudem liege
ein Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 GG darin, dass die verwandten Personen in
Steuerklasse II der gleichen Tarifbelastung unterlägen wie alle übrigen,
nicht verwandten Personen in Steuerklasse III. Die AdV stehe entgegen der
Ansicht des FG nicht unter einem Haushaltsvorbehalt. Die fiskalischen
Auswirkungen einer AdV müssten ebenso unberücksichtigt bleiben wie die
mögliche Art der Entscheidung des BVerfG.
4
Der Kläger beantragt, die
Vorentscheidung und die Vollziehung des Schenkungsteuerbescheids vom
20. April 2009 in Höhe von 4.590 € ohne Sicherheitsleistung aufzuheben.
5
Das FA ist der Beschwerde
entgegengetreten.
Entscheidungsgründe
II.
6
Die Beschwerde ist unbegründet und war
daher zurückzuweisen. Wie das FG zutreffend angenommen hat, ist der Antrag
auf AdV abzulehnen, weil der Kläger nicht das unter den besonderen Umständen
des Streitfalls erforderliche (besondere) Aussetzungsinteresse hat. Auf die
Frage, ob ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen
Schenkungsteuerbescheids i.S. des § 69 Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 2 i.V.m.
Abs. 2 Satz 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) bestehen, kommt es danach
nicht an.
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1. Bestehen ernstliche Zweifel an der
Rechtmäßigkeit eines angefochtenen Verwaltungsakts, hat das FG dessen
Vollziehung im Regelfall auszusetzen. Dies ergibt sich aus der Formulierung
des § 69 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 2 FGO als
Sollvorschrift (Beschluss des Großen Senats des Bundesfinanzhofs - BFH - vom
4. Dezember 1967 GrS 4/67, BFHE 90, 461, BStBl II 1968, 199, unter 4.;
BFH-Beschluss vom 10. Februar 1984 III B 40/83, BFHE 140, 396, BStBl II
1984, 454, unter III.). Nur in besonders gelagerten Ausnahmefällen kann
trotz Vorliegens solcher Zweifel die AdV abgelehnt werden.
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Ein solcher atypischer Fall kommt in
Betracht, wenn die ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit des
Verwaltungsakts auf Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit einer dem
Verwaltungsakt zugrunde liegenden Gesetzesvorschrift beruhen (BFH-Beschluss
in BFHE 140, 396, BStBl II 1984, 454, unter III.). Ist dies der Fall, ist
die Gewährung von AdV zwar nicht ausgeschlossen (BFH-Beschluss vom
25. August 2009 VI B 69/09, BFHE 226, 85, BStBl II 2009, 826, m.w.N.). Sie
setzt aber nach langjähriger Rechtsprechung des BFH wegen des
Geltungsanspruchs jedes formell verfassungsgemäß zustande gekommenen
Gesetzes zusätzlich ein (besonderes) berechtigtes Interesse des
Antragstellers an der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes voraus (vgl. z.B.
BFH-Beschlüsse vom 6. November 1987 III B 101/86, BFHE 151, 428, BStBl II
1988, 134, unter 4.; vom 2. August 1988 III B 12/88, BFHE 154, 123, unter
5.; vom 20. Juli 1990 III B 144/89, BFHE 162, 542, BStBl II 1991, 104; vom
1. April 1992 III B 137/91, BFH/NV 1992, 598; vom 14. April 1992
VIII B 114/91, BFH/NV 1993, 165; vom 20. Mai 1992 III B 100/91, BFHE 168,
174, BStBl II 1992, 729; vom 21. Mai 1992 X B 106/91, BFH/NV 1992, 721; vom
9. November 1992 X B 137/92, BFH/NV 1994, 324; vom 17. März 1994
VI B 154/93, BFHE 173, 554, BStBl II 1994, 567, unter 2.; vom 19. August
1994 X B 318,319/93, BFH/NV 1995, 143; vom 30. Januar 2001 VII B 291/00,
BFH/NV 2001, 1031; vom 6. November 2001 II B 85/01, BFH/NV 2002, 508, und
vom 27. August 2002 XI B 94/02, BFHE 199, 566, BStBl II 2003, 18).
9
Bei der Prüfung, ob ein solches
berechtigtes Aussetzungsinteresse des Steuerpflichtigen besteht, ist dieses
mit den gegen die Gewährung von AdV sprechenden öffentlichen Belangen
abzuwägen. Dabei kommt es maßgeblich einerseits auf die Bedeutung und die
Schwere des durch die Vollziehung des angefochtenen Steuerbescheids
eintretenden Eingriffs beim Steuerpflichtigen und andererseits auf die
Auswirkungen einer AdV hinsichtlich des Gesetzesvollzuges und des
öffentlichen Interesses an einer geordneten Haushaltsführung an
(BFH-Beschlüsse in BFHE 162, 542, BStBl II 1991, 104; in BFH/NV 1992, 598;
in BFHE 168, 174, BStBl II 1992, 729; in BFH/NV 1992, 721; in BFH/NV 1994,
324; in BFH/NV 1995, 143; in BFHE 199, 566, BStBl II 2003, 18). Das Gewicht
der ernstlichen Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der betroffenen
Vorschrift ist bei dieser Abwägung nicht von ausschlaggebender Bedeutung
(BFH-Beschluss in BFH/NV 1994, 324). Diese Rechtsprechung ist mit den
verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Gewährung effektiven
Rechtsschutzes vereinbar (BVerfG-Beschlüsse vom 6. April 1988 1 BvR 146/88,
Steuerrechtsprechung in Karteiform, Finanzgerichtsordnung, § 69,
Rechtsspruch 283, und vom 3. April 1992 2 BvR 283/92, Höchstrichterliche
Finanzrechtsprechung 1992, 726).
10
2. Der BFH hat in Fällen, in denen die
ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts auf Bedenken
gegen die Verfassungsmäßigkeit einer dem Verwaltungsakt zugrunde liegenden
Gesetzesvorschrift beruhen, in verschiedenen Fallgruppen dem
Aussetzungsinteresse des Steuerpflichtigen den Vorrang vor den öffentlichen
Interessen eingeräumt, und zwar wenn dem Steuerpflichtigen durch den
sofortigen Vollzug irreparable Nachteile drohen (BFH-Beschlüsse in BFH/NV
1994, 324, und in BFH/NV 1995, 143), wenn das zu versteuernde Einkommen
abzüglich der darauf zu entrichtenden Einkommensteuer unter dem
sozialhilferechtlich garantierten Existenzminimum liegt (BFH-Beschlüsse vom
25. Juli 1991 III B 555/90, BFHE 164, 570, BStBl II 1991, 876, und vom
29. Oktober 1991 III B 83/91, BFH/NV 1992, 246), wenn das BVerfG eine
ähnliche Vorschrift für nichtig erklärt hatte (BFH-Beschluss vom
15. Dezember 2000 IX B 128/99, BFHE 194, 157, BStBl II 2001, 411), wenn der
BFH die vom Kläger als verfassungswidrig angesehene Vorschrift bereits dem
BVerfG gemäß Art. 100 Abs. 1 GG zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit
vorgelegt hatte (BFH-Beschlüsse vom 11. Juni 2003 IX B 16/03, BFHE 202, 53,
BStBl II 2003, 663; vom 22. Dezember 2003 IX B 177/02, BFHE 204, 39, BStBl
II 2004, 367; vom 30. November 2004 IX B 120/04, BFHE 208, 213, BStBl II
2005, 287, und vom 31. Januar 2007 VIII B 219/06, BFH/NV 2007, 914), wenn
ernstliche Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Beschränkung des bisher
zulässigen Abzugs von laufenden erwerbsbedingten Aufwendungen als
Werbungskosten bestehen (BFH-Beschlüsse vom 23. August 2007 VI B 42/07, BFHE
218, 558, BStBl II 2007, 799, zu den Aufwendungen für Wege zwischen Wohnung
und Arbeitsstätte, und in BFHE 226, 85, BStBl II 2009, 826, zu den
Aufwendungen für ein häusliches Arbeitszimmer) oder wenn es um das aus
verfassungsrechtlichen Gründen schutzwürdige Vertrauen auf die Beibehaltung
der bisherigen Rechtslage (BFH-Beschluss vom 5. März 2001 IX B 90/00, BFHE
195, 205, BStBl II 2001, 405) oder um ausgelaufenes Recht geht
(BFH-Beschlüsse in BFH/NV 2007, 914, und vom 2. August 2007 IX B 92/07,
BFH/NV 2007, 2270).
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3. An der Rechtsprechung, wonach AdV bei
ernstlichen Zweifeln an der Verfassungsmäßigkeit einer gesetzlichen
Vorschrift, die dem angefochtenen Verwaltungsakt zugrunde liegt, nur bei
Vorliegen eines (besonderen) berechtigten Aussetzungsinteresses des
Steuerpflichtigen zu gewähren ist, ist entgegen der Auffassung des Klägers
und einer in der Literatur vertretenen Ansicht (vgl. z.B. Seer in
Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 69 FGO Rz 97, m.w.N.;
Gräber/Koch, Finanzgerichtsordnung, 6. Aufl., § 69 Rz 113; Schallmoser,
Deutsches Steuerrecht 2010, 297; offen BFH-Beschlüsse in BFHE 195, 205,
BStBl II 2001, 405; in BFHE 202, 53, BStBl II 2003, 663; in BFH/NV 2007,
914; in BFH/NV 2007, 2270; in BFHE 218, 558, BStBl II 2007, 799, und in BFHE
226, 85, BStBl II 2009, 826) jedenfalls unter den Umständen des Streitfalls
festzuhalten. Dem bis zu einer gegenteiligen Entscheidung des BVerfG
bestehenden Geltungsanspruch jedes formell verfassungsgemäß zustande
gekommenen Gesetzes ist dann der Vorrang einzuräumen, wenn die AdV eines
Steuerbescheids im Ergebnis zur vorläufigen Nichtanwendung eines ganzen
Gesetzes führte, die Bedeutung und die Schwere des durch die Vollziehung des
angefochtenen Bescheids im Einzelfall eintretenden Eingriffs beim
Steuerpflichtigen als eher gering einzustufen sind und der Eingriff keine
dauerhaft nachteiligen Wirkungen hat. Der dem Aussetzungsinteresse des
Steuerpflichtigen vom BFH für bestimmte Fallgruppen eingeräumte Vorrang vor
den öffentlichen Interessen lässt genügend Spielraum für eine sachgerechte,
dem verfassungsrechtlich gewährleisteten Anspruch auf effektiven
Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG) entsprechende Beurteilung des Einzelfalles.
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4. Die beantragte AdV war danach
abzulehnen. Weder dem Vorbringen des Klägers noch dem sonstigen Akteninhalt
lässt sich ein (besonderes) berechtigtes Interesse des Klägers an der
Gewährung von AdV entnehmen. Da die vom FA festgesetzte Steuer von 4.590 €
lediglich knapp 20 % des dem Kläger zugewendeten Geldbetrags beträgt, ist
dem Kläger die (vorläufige) Entrichtung der Steuer ohne weiteres zumutbar.
Bereits dies schließt die Gewährung von AdV aus.
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Aufgrund des im Vergleich zum Wert des
Erwerbs niedrigen Steuerbetrags kommt dem öffentlichen Interesse an der
Vollziehung des formell verfassungsgemäß zustande gekommenen ErbStG zudem
besonderes Gewicht zu. Hierbei ist nicht nur auf die geringfügigen
Auswirkungen einer AdV im konkreten Einzelfall abzustellen. Zwar wirkt die
Entscheidung über die Gewährung von AdV unmittelbar nur zwischen den
Verfahrensbeteiligten. In der praktischen Auswirkung käme die Gewährung der
beantragten AdV aber im Streitfall einem einstweiligen Außerkraftsetzen des
ErbStG gleich, wenn die AdV auf die vom Kläger angenommenen ernstlichen
Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Tarifnorm des § 19 ErbStG gestützt
würde, und zwar mit Rücksicht auf die erforderliche Gleichbehandlung aller
Steuerpflichtigen (vgl. BFH-Beschluss vom 6. Februar 1967 VII B 46/66, BFHE
87, 414, BStBl III 1967, 123). Diese Auswirkung ist bei der hier
vorzunehmenden Abwägung maßgebend (BFH-Beschluss in BFHE 140, 396, BStBl II
1984, 454, unter III.).
14
Die Voraussetzungen, unter denen der BFH
bei ernstlichen Zweifeln an der Verfassungsmäßigkeit einer dem angefochtenen
Verwaltungsakt zugrunde liegenden gesetzlichen Vorschrift AdV gewährt hat
(oben 3.), sind vorliegend deshalb nicht erfüllt.
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