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BFH-Urteil vom 9.12.2009 (X R 54/06) BStBl. 2010 II S. 732
Ermittlungspflichten des FA vor einer öffentlichen Zustellung wegen
"unbekannten Aufenthaltsorts"
Geht das FA davon aus, dass sich ein Steuerpflichtiger in einem bestimmten
Land aufhält, ohne dessen dortige Anschrift zu kennen, muss es im Vorfeld
einer öffentlichen Zustellung wegen "unbekannten Aufenthaltsorts" gemäß § 15
Abs. 1 Buchst. a VwZG versuchen, die gültige ausländische Anschrift im Wege
des zwischenstaatlichen Informationsaustauschs zu ermitteln (vgl. dazu für
die Streitjahre BMF-Schreiben vom 3. Februar 1999, BStBl I 1999, 228, für
die Zeit danach vom 25. Januar 2006, BStBl I 2006, 26). Erst wenn feststeht,
dass eine Anschriftenermittlung auf diesem Wege nicht möglich oder
fehlgeschlagen ist, darf das FA zur öffentlichen Zustellung übergehen.
AO § 122 Abs. 5; VwZG § 15 Abs. 1 Buchst.
a.
Vorinstanz: FG Köln vom 18. Oktober 2006 10
K 2019/05 (EFG 2007, 158)
Sachverhalt
I.
1
Der Kläger und
Revisionsbeklagte (Kläger) wurde im Streitjahr 2001 einzeln veranlagt. Im
Streitjahr 2001 veräußerte der Kläger seine Anteile an einer GmbH.
2
Noch im Streitjahr verzog er
nach Spanien und meldete sich bei dem für ihn zuständigen deutschen
Einwohnermeldeamt unter Angabe einer neuen Anschrift in M ab. Bereits im
Dezember des Streitjahres zog der Kläger von M nach P (ebenfalls Spanien)
um. Er meldete sich bei den spanischen Behörden in P an.
3
Der Beklagte und
Revisionskläger (das Finanzamt - FA -) schätzte die Besteuerungsgrundlagen
zur Einkommen- und Umsatzsteuer für 1999 und 2000 und übersandte die
Bescheide an die ihm vom Einwohnermeldeamt mitgeteilte Anschrift in M. Sie
kamen jedoch, ohne dass das Finanzgericht (FG) hierzu Einzelheiten
festgestellt hätte, als "unzustellbar" zurück.
4
Da der deutschen
Meldebehörde nur die Anschrift in M bekannt war, wandte sich das FA an den
Sohn des Klägers und bat diesen mit Schreiben vom 28. Mai, 16. Juli und 7.
August 2002, die aktuelle Anschrift des Klägers mitzuteilen. Der frühere
Steuerberater des Klägers, der wegen rückständiger Honorarforderungen in den
Jahren 2002 bis 2004 nicht mehr für den Kläger tätig war und deshalb keine
Empfangsvollmacht besaß, teilte dem FA auf Anfrage mit Schreiben vom 2. Juli
2002 ohne Angabe einer genauen Anschrift mit, der Kläger lebe in Spanien.
5
Mit Schreiben vom 20. August
2002 zeigte der Rechtsanwalt S gegenüber dem FA an, die Interessen des
Sohnes des Klägers zu vertreten. S erklärte dem FA mit Schreiben vom 30.
August 2002 namens und im Auftrag des Sohnes des Klägers, "unabhängig von
der Frage, ob mein Mandant überhaupt die Anschrift des Vaters hat, was ich
ausdrücklich offen lassen möchte, ist mein Mandant - auch unterstellt, er
hätte tatsächlich eine genaue Anschrift seines Vaters - derzeit unter den
gegebenen Umständen nicht bereit, die Anschrift seines Vaters zu benennen".
6
Das FA stellte daraufhin die
- hier nicht streitigen - Einkommen- und Umsatzsteuerbescheide für 1999 und
2000 öffentlich zu (Tag des Aushangs: 5. September 2002).
7
Für das Streitjahr 2001
wurden die Besteuerungsgrundlagen zur Einkommensteuer mit Bescheid unter dem
6. Mai 2003 ebenfalls geschätzt. Das FA fragte erneut beim Einwohnermeldeamt
nach, ob diesem zwischenzeitlich eine andere Anschrift des Klägers
bekanntgeworden sei. Dies verneinte das Einwohnermeldeamt.
8
Weder versandte das FA in
der Folge den Einkommensteuerbescheid für das Streitjahr an die Anschrift in
M, noch versuchte es, den Bescheid dort im Wege einer förmlichen
Auslandszustellung bekanntzugeben. Es stellte den Einkommensteuerbescheid
öffentlich zu (Tag des Aushangs: 26. Mai 2003). In der begleitenden
Verfügung ist die Anschrift des Klägers in M angegeben sowie der Zusatz
enthalten, der derzeitige Aufenthaltsort des Klägers sei unbekannt und
"Zustellungsversuche durch die Post und Ermittlungen über den Aufenthaltsort
seien ergebnislos geblieben".
9
Auf Anforderung des später
auch für den Kläger tätig gewordenen und mit einer Zustellungsvollmacht
ausgestatteten S übersandte das FA ihm Ende April 2004 unter anderem eine
Kopie des Steuerbescheids für das Streitjahr, um die vom FA im Wege der
Vollstreckung geltend gemachten Steuerforderungen zu prüfen. Der Kläger
legte mit Schreiben vom 19. Mai 2004 Einspruch gegen den
Einkommensteuerbescheid des Streitjahres ein.
10
Das FA verwarf den Einspruch
mit Einspruchsentscheidung vom 15. April 2005 als unzulässig. Maßgeblicher
Bekanntgabezeitpunkt des Einkommensteuerbescheids für das Streitjahr sei
aufgrund der öffentlichen Zustellung der 10. Juni 2003. Der Kläger habe erst
im Mai 2004 verfristet Einspruch eingelegt. Die Wiedereinsetzung sei zu
versagen, da der Kläger seinen Antrag nicht entsprechend § 110 Abs. 2 der
Abgabenordnung (AO) innerhalb eines Monats begründet habe.
11
Der Kläger erhob Klage. Die
öffentliche Zustellung sei unwirksam. Das FA habe zuvor weder versucht, den
Einkommensteuerbescheid des Streitjahres über die zuständige spanische
Behörde bzw. die diplomatische Vertretung des Bundes in Spanien zuzustellen,
noch habe es in der erforderlichen Weise versucht, seine im Jahr 2003
gültige Anschrift in P zu ermitteln.
12
Er beantragte vor dem FG, 1.
die Einspruchsentscheidung vom 15. April 2005 aufzuheben, 2. die
Unwirksamkeit des Einkommensteuerbescheids 2001 in der öffentlich
bekanntgegebenen Form festzustellen, und 3. die Unwirksamkeit des
Einkommensteuerbescheids 2001 in Form der später ausgehändigten Kopie
festzustellen.
13
Das FG gab der Klage
teilweise statt. Es hob die Einspruchsentscheidung auf und stellte
antragsgemäß fest, der Einkommensteuerbescheid des Streitjahres sei nicht
wirksam öffentlich zugestellt worden. Es wies die Klage hinsichtlich des
Feststellungsantrags unter Nr. 3 des Klageantrags ab. Seine Entscheidung ist
in den Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2007, 158 veröffentlicht.
14
Zur Begründung seiner
Revision trägt das FA vor, das FG verneine zu Unrecht, dass der
Aufenthaltsort des Klägers im Zeitpunkt der öffentlichen Zustellung
"unbekannt" i.S. des § 15 Abs. 1 Buchst. a des
Verwaltungszustellungsgesetzes (VwZG) des Bundes in der im Jahr 2003
anzuwendenden Fassung gewesen sei. Der Kläger habe den deutschen
Meldebehörden nur die Anschrift in M, nicht aber den Umzug nach P bekannt
gemacht. Er habe nach seinem Wegzug mit dem Zugang von Steuerbescheiden
rechnen müssen. Das Verhalten des Klägers führe dazu, dass das FA, nachdem
es davon habe ausgehen müssen, der Kläger wohne nicht mehr in M und
vergeblich versucht habe, aus inländischen Quellen eine neue Anschrift zu
ermitteln, zu keinen weiteren Ermittlungen verpflichtet gewesen sei. Es habe
insbesondere entgegen der Auffassung des FG vor der öffentlichen Zustellung
weder die Anschrift der zuständigen Meldebehörde in M ausfindig machen, noch
die Anfrage ins Spanische übersetzen und dorthin senden, noch prüfen müssen,
ob für eine solche Anfrage überhaupt eine Rechtsgrundlage bestanden habe.
Die Argumentation des FG sei außerdem unschlüssig. Es habe eine Pflicht des
FA bejaht, bei den Meldebehörden in M zu recherchieren, selbst aber nicht
einmal festgestellt, ob sich der Kläger in M an- und wieder abgemeldet habe,
sondern dies nur als "nahe liegend" angesehen. Es stehe im Streitfall
lediglich fest, dass der Kläger den deutschen Meldebehörden die Anschrift in
M mitgeteilt und sich bei den Behörden in P angemeldet habe.
15
Das FA beantragt, das
FG-Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
16
Der Kläger beantragt, die
Revision des FA als unbegründet zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II.
17
Die Revision des FA ist zulässig.
18
1. Der vom FA im Revisionsverfahren
gestellte Antrag, das FG-Urteil vollständig aufzuheben, richtet sich gegen
alle darin enthaltenen Streitgegenstände. Das FA ist im Streitfall materiell
auch beschwert, soweit das FG das Feststellungsbegehren unter Nr. 3 des
Klageantrags abgewiesen hat.
19
a) Der Bundesfinanzhof (BFH) kann bei
mehreren Streitgegenständen in einem angefochtenen FG-Urteil über die
Revision zu einzelnen Streitgegenständen (hier die Anträge unter Nr. 1 bis 3
des Klageantrags) nur entscheiden, wenn sich die Revisionsrügen gesondert
auf die einzelnen Streitgegenstände beziehen und das Revisionsbegehren für
jeden Streitgegenstand zulässig ist (vgl. z.B. Senatsurteil vom 11. Februar
2009 X R 51/06, BFHE 226, 1, BStBl II 2009, 892).
20
b) Das FA hat in der Revision beantragt,
das FG-Urteil insgesamt aufzuheben und die Klage abzuweisen, obwohl es
hinsichtlich der Feststellung unter Nr. 3 des Klageantrags vor dem FG
obsiegt hat. Die Revision des FA ist jedoch auch insoweit zulässig, da es
trotz der Klageabweisung durch das FG-Urteil materiell beschwert ist (vgl.
zu der erforderlichen materiellen Beschwer des FA z.B. das Senatsurteil vom
29. April 2009 X R 16/06, BFHE 225, 4, BStBl II 2009, 732; Gräber/Ruban,
Finanzgerichtsordnung, 6. Aufl., Vor § 115 Rz 12 und 14, m.w.N.).
21
Die materielle Beschwer des FA besteht hier
darin, dass das FG den Einkommensteuerbescheid für das Streitjahr aufgrund
des angenommenen Bekanntgabezeitpunkts Ende April 2004 nicht als
bestandskräftig angesehen hat. Das FA kann seine abweichende
Rechtsauffassung, der Bescheid sei schon im Wege der öffentlichen Zustellung
im Juni 2003 bekanntgegeben und aufgrund des verfristeten Einspruchs
bestandskräftig geworden, nur durchsetzen, wenn das FG-Urteil in der
Revision hinsichtlich aller Streitgegenstände aufgehoben wird.
22
aa) Bestehen Zweifel am Zugang eines
Steuerbescheids und gibt die Behörde daraufhin nochmals (zur Heilung) einen
inhaltsgleichen Verwaltungsakt bekannt oder übermittelt sie eine
Bescheidkopie, so tritt nach ständiger Rechtsprechung des BFH die
Bekanntgabe gemäß § 124 Abs. 1 Satz 1 AO jedenfalls mit dem Zugang des
wiederholenden Bescheids oder der Kopie ein, wenn die Bekanntgabe zuvor
nicht wirksam war (vgl. Senatsbeschluss vom 7. November 2008 X B 55/08,
BFH/NV 2009, 195; Tipke in Tipke/Kruse, Abgabenordnung,
Finanzgerichtsordnung, § 124 AO Rz 11; Güroff in Beermann/Gosch, AO § 124 Rz
7). Das FG hat sich im Streitfall auf diese Rechtsprechung gestützt und ist
von der Bekanntgabe des Bescheids erst Ende April 2004 ausgegangen. Käme der
erkennende Senat in der Revision zu dem Ergebnis, der Steuerbescheid des
Streitjahres sei bereits im Juni 2003 aufgrund der öffentlichen Zustellung
wirksam bekanntgegeben worden, käme es auf den Zugang des wiederholenden
Steuerbescheids durch Übermittlung der Bescheidkopie im Streitfall nicht
mehr an. Maßgeblich wäre dann für alle Folgefragen (Festsetzungsverjährung,
Verzinsung und Beginn der Einspruchsfrist) nur der frühere
Bekanntgabezeitpunkt (vgl. Tipke in Tipke/Kruse, a.a.O., § 124 AO Rz 11). Im
Streitfall schließen sich demnach die möglichen Bekanntgabezeitpunkte
wechselseitig aus, d.h. der unter dem 6. Mai 2003 erlassene
Einkommensteuerbescheid des Streitjahres ist dem Kläger entweder im Wege der
öffentlichen Zustellung im Juni 2003 oder erst Ende April 2004 durch
Übermittlung der Bescheidkopie bekanntgegeben worden (vgl. hierzu den
Senatsbeschluss vom 15. Dezember 2004 X B 3/04, BFH/NV 2005, 496).
23
bb) Könnte das FA das FG-Urteil mangels
Beschwer hinsichtlich der Feststellung laut Ziffer Nr. 3 des Klageantrags
nicht anfechten, wäre das FG-Urteil insoweit rechtskräftig und bindend für
die Beteiligten (§ 110 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung - FGO
-). Das FA müsste dann gegen sich gelten lassen, dass der
Einkommensteuerbescheid des Streitjahres unter dem 6. Mai 2003 erst mit
Zugang der Bescheidkopie Ende April 2004 wirksam bekanntgegeben worden ist.
Hierdurch wäre gleichsam für das vorliegende Verfahren für die
Streitgegenstände unter Nr. 1 und 2 des Klageantrags bindend entschieden,
dass vom späteren Bekanntgabezeitpunkt auszugehen wäre. Somit kann das FA
das FG-Urteil auch hinsichtlich der Feststellung unter Nr. 3 des
Klageantrags mit der Revision angreifen, obwohl es vor dem FG in diesem
Punkt obsiegt hat.
24
2. Die Revision des FA ist unbegründet und
zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 FGO), soweit sie sich gegen die isolierte
Aufhebung der Einspruchsentscheidung richtet. Der Einspruch des Klägers ist
nicht verfristet, weil die öffentliche Zustellung des
Einkommensteuerbescheids für das Streitjahr unwirksam war und dieser erst
Ende April 2004 bekanntgegeben worden ist.
25
a) Das FA hat den Einkommensteuerbescheid
des Streitjahres nicht gemäß § 15 Abs. 1 Buchst. a VwZG a.F. i.V.m. § 122
Abs. 5 AO wirksam öffentlich zugestellt. Es ist nicht seiner Verpflichtung
nachgekommen, im Vorfeld der öffentlichen Zustellung den Aufenthaltsort des
Klägers mit allen zumutbaren und geeigneten Maßnahmen zu ermitteln.
26
aa) Ein Steuerbescheid kann gemäß § 15 Abs.
1 Buchst. a VwZG a.F. i.V.m. § 122 Abs. 5 AO öffentlich zugestellt werden,
wenn der Aufenthaltsort des Empfängers "unbekannt" ist. Wegen des Anspruchs
des Zustellungsempfängers auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 des
Grundgesetzes, vgl. grundlegend Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom
26. Oktober 19871 BvR 198/87, Neue Juristische Wochenschrift 1988, 2361) ist
die Zustellungsfiktion verfassungsrechtlich nur zu rechtfertigen, wenn eine
andere Form der Zustellung aus sachlichen Gründen nicht oder nur schwer
durchführbar ist. § 15 Abs. 1 Buchst. a VwZG a.F. setzt deshalb voraus, dass
nicht nur der zustellenden Behörde die Anschrift des Zustellungsempfängers
unbekannt, sondern dessen Aufenthaltsort allgemein unbekannt ist. Die
öffentliche Zustellung ist erst als "letztes Mittel" zulässig, wenn alle
Möglichkeiten erschöpft sind, das Schriftstück dem Empfänger in anderer
Weise zu übermitteln (vgl. z.B. BFH-Urteile vom 13. Januar 2005 V R 44/03,
BFH/NV 2005, 998, m.w.N.; vom 6. Juni 2000 VII R 55/99, BFHE 192, 200, BStBl
II 2000, 560; Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 18. April 1997 8 C
43.95, BVerwGE 104, 301; Engelhardt/App, VwVG/VwZG, 7. Aufl. 2006, § 10 VwZG
Rz 3, m.w.N.).
27
bb) Die Anforderungen an die Behörde, den
Aufenthaltsort des Bekanntgabeadressaten ermitteln zu müssen, dürfen jedoch
im Einzelfall nicht überspannt werden.
28
aaa) Eine Rechtspflicht der zustellenden
Behörde, Anschriften im Ausland zu ermitteln, wird in der Rechtsprechung
daher regelmäßig verneint, wenn ein Fall der "Auslandsflucht" vorliegt (vgl.
die BFH-Entscheidungen in BFH/NV 2005, 998; vom 16. Januar 2001 VI S 25/00,
BFH/NV 2001, 802) oder wenn sich der Empfänger beim inländischen
Melderegister "ins Ausland" ohne Angabe einer Anschrift abmeldet (vgl. z.B.
die Entscheidungen des FG Düsseldorf vom 17. Februar 20061 K 2677/05, E, U,
EFG 2006, 865; des FG München vom 17. Juni 20036 K 336/03, nicht
veröffentlicht - n.v. -; des Bundespatentgerichts vom 7. Juli 200428 W (pat)
227/03, Mitteilungen der Deutschen Patentanwälte 2005, 131; des
Bundesgerichtshofs - BGH - vom 8. Juni 1978 IX ZR 11/74, Rechtsprechung zum
Wiedergutmachungsrecht 1978, 184, und Schwarz in Hübschmann/Hepp/ Spitaler -
HHSp -, § 10 VwZG Rz 18). Dem schließt sich der erkennende Senat an. Das FA
ist in diesen Fällen vorrangig nur zu Ermittlungsmaßnahmen im Inland
verpflichtet, z.B. durch Nachfragen beim Einwohnermeldeamt und bei
Kontaktpersonen des Empfängers. Gleiches gilt, wenn sich der
Zustellungsempfänger in einer Weise verhält, die auf seine Absicht schließen
lässt, den Aufenthaltsort zu verheimlichen (vgl. Schwarz in HHSp, § 10 VwZG
Rz 17).
29
bbb) Ein solcher Fall liegt hier aber nicht
vor. Das FA hat trotz der fehlgeschlagenen Zustellung der Bescheide für die
Jahre 1999 und 2000 an die Anschrift in M aufgrund der Auskunft des
ehemaligen Steuerberaters im Jahr 2002, der Kläger lebe in Spanien, und der
Abmeldung des Klägers unter Angabe der Anschrift in M, genügend
Anhaltspunkte gehabt, um zumindest von einem fortbestehenden Aufenthalt des
Klägers in Spanien auszugehen. Es durfte sich daher nicht wie bei
Steuerpflichtigen, die sich "ins Ausland" ohne eine neue Anschrift abmelden
oder flüchtig sind, von vornherein auf inländische Ermittlungsmaßnahmen
beschränken.
30
cc) Im Streitfall ist somit zu entscheiden,
welche konkreten Ermittlungspflichten ein FA vor einer öffentlichen
Zustellung hinsichtlich der ausländischen Anschrift eines Steuerpflichtigen
hat, wenn es diesen in einem bestimmten Land vermutet und durch
Ermittlungsmaßnahmen bei inländischen Behörden und Kontaktpersonen keine
weitere Aufklärung erreichen kann. Der Senat ist der Auffassung, dass ein FA
in diesem Fall alle objektiv geeignet erscheinenden, rechtlich zulässigen
und zumutbaren Ermittlungsmöglichkeiten des grenzüberschreitenden
Informationsaustausches auszuschöpfen hat. Es muss insbesondere klären, ob
ein solcher Informationsaustausch mit Behörden des vermuteten
Aufenthaltsstaats möglich ist und an diese ein Auskunftsersuchen richten, um
die dortige Anschrift des Steuerpflichtigen zu ermitteln. Das
Bundesministerium der Finanzen (BMF) hat für den Zeitraum vom 3. Februar
1999 bis zum 24. Januar 2006 - und somit für das hier maßgebliche
Zustellungsjahr 2003 - unter dem 3. Februar 1999 (BStBl I 1999, 228, 974)
ein Merkblatt zur zwischenstaatlichen Amtshilfe durch Auskunftsaustausch in
Steuersachen veröffentlicht (für die Zeit danach BMF-Schreiben vom 25.
Januar 2006, BStBl I 2006, 26); in diesem fasst das BMF die wesentlichen
Rechtsgrundlagen für Auskunftsersuchen deutscher Finanzämter und das zu
beachtende Verfahren zusammen. In Tz. 2.2.4 weist das BMF darauf hin, im
Rahmen einer Voranfrage könnten Auskünfte über "Namen, Anschrift oder andere
allgemein zugängliche Angaben" von Steuerpflichtigen in anderen Staaten
eingeholt werden (siehe ergänzend hierzu Höppner, in:
Becker/Höppner/Grotherr/Kroppen, DBA, Art. 26 OECD-MA Rz 137);
Anschlussersuchen und Richtigstellungen sind ebenfalls möglich (Tz. 2.2.7
des BMF-Schreibens in BStBl I 1999, 228). Erst wenn feststeht, dass eine
Anschriftenermittlung im Wege des grenzüberschreitenden
Informationsaustausches entweder nicht möglich oder ein konkretes
Auskunftsersuchen fehlgeschlagen ist, darf das FA demnach zur öffentlichen
Zustellung übergehen.
31
dd) Dem FG ist nach Maßgabe dieser
Grundsätze jedenfalls im Ergebnis zuzustimmen, dass die öffentliche
Zustellung im Streitfall unwirksam war.
32
aaa) Das FG hat seine Entscheidung im
Wesentlichen damit begründet, es sei dem FA möglich und zumutbar gewesen,
anknüpfend an die bekannte Anschrift in M bei den dortigen spanischen
Meldebehörden zu recherchieren, um die seit Dezember 2001 gültige Anschrift
des Klägers in P zu erfahren. Der Senat lässt offen, ob dem zu folgen ist.
Es spricht manches dafür, dass die vom FG verlangte direkte Recherche eines
deutschen FA bei ausländischen Meldebehörden gegenüber einer
Anschriftenermittlung im Wege des grenzüberschreitenden Auskunftsverkehrs
von vornherein ein weniger geeignetes Mittel ist, da ein solches
Auskunftsersuchen weder auf einer gesicherten Rechtsgrundlage noch auf einem
regelmäßig praktizierten Verfahren beruht.
33
bbb) Das FA hat im Streitfall mit der
Anfrage beim Einwohnermeldeamt und beim Sohn des Klägers im Vorfeld der
öffentlichen Zustellung nicht alles Erforderliche getan, weil es vor der
öffentlichen Zustellung hätte versuchen müssen, die neue Anschrift des
Klägers in P im Wege des grenzüberschreitenden Auskunftsaustausches zu
erfahren.
34
(1) Auf Grundlage der sog.
Amtshilferichtlinie (Richtlinie 77/799/EWG des Rates vom 19. Dezember 1977
über die gegenseitige Amtshilfe zwischen den zuständigen Behörden der
Mitgliedstaaten im Bereich der direkten Steuern) bestand im Jahr 2003 im
Verhältnis zu Spanien eine Rechtsgrundlage für ein solches
Auskunftsersuchen. Die Mitgliedstaaten gewähren einander gemäß Art. 1 Abs. 1
dieser Richtlinie gegenseitig alle Auskünfte, die für die zutreffende
Festsetzung der Steuern vom Einkommen (und damit gemäß Art. 1 Abs. 3 dieser
Richtlinie auch bei der Festsetzung der Einkommensteuer) geeignet sein
können. Art. 2 dieser Richtlinie ermächtigt auch deutsche Finanzämter dazu,
- nach dem im BMF-Schreiben in BStBl I 1999, 228 vorgegebenen Verfahren -
ein Auskunftsersuchen an die zuständige Behörde eines anderen Mitgliedstaats
zu richten. Zu den austauschbaren "Informationen" in diesem Sinne gehören
nach Auffassung des Senats grundsätzlich auch personenbezogene Informationen
wie die Anschrift eines im Hoheitsbereich des anderen Mitgliedstaats
lebenden Steuerpflichtigen (siehe auch Höppner, in:
Becker/Höppner/Grotherr/Kroppen, a.a.O., Art. 26 OECD-MA Rz 307).
35
(2) Neben dem Informationsaustausch
aufgrund der Amtshilferichtlinie gibt es im Zustellungsjahr 2003 im
Verhältnis zu Spanien auch einen abkommensrechtlichen Auskunftsanspruch. Das
Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Spanischen Staat
zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und zur Verhinderung der
Steuerverkürzung bei den Steuern vom Einkommen und vom Vermögen vom 5.
Dezember 1966 (BGBl II 1968, 9) - DBA Spanien - enthält in Art. 26 Abs. 1
eine sog. "große Auskunftsklausel", da nicht nur Informationen zur
"Durchführung des Abkommens", sondern auch zur "Durchführung des
innerstaatlichen Rechts der Vertragstaaten" im Wege einer Einzelauskunft
ausgetauscht werden können (vgl. Eilers in Debatin/ Wassermeyer MA Art. 26
Rz 24-27, Herlinghaus in Debatin/ Wassermeyer Spanien Art. 26 Rz 3;
ausführlich Engelschalk in Vogel/Lehner, DBA, 5. Aufl., Art. 26 Rz 64-67;
Höppner, in: Becker/Höppner/Grotherr/Kroppen, a.a.O., Art. 26 DBA Spanien Rz
3 und Art. 26 OECD-MA Rz 187). Informationen im Sinne des Abkommensrechts
sind auch die Verhältnisse einer bestimmbaren natürlichen Person (vgl.
Höppner, in: Becker/Höppner/Grotherr/ Kroppen, a.a.O., Art. 26 OECD-MA Rz
111). Hierzu gehört nach Ansicht des Senats auch deren Anschrift im anderen
Abkommensstaat.
36
(3) Das FA hätte demnach vor der
öffentlichen Zustellung über das damals zuständige Bundesamt für Finanzen
(BfF) an die zuständigen spanischen Behörden ein Auskunftsersuchen oder eine
Voranfrage richten müssen, um die Anschrift des Klägers in Spanien zu
ermitteln. Das FA hatte aufgrund der ihm vorliegenden Informationen
hinreichende Anhaltspunkte dafür, dass sich der Kläger tatsächlich noch in
Spanien - und nicht in einem dritten Staat - aufhält. Eine Anfrage bei dem
BfF wäre im Streitfall zumutbar gewesen, da ein solches Ersuchen über den
Dienstweg nach Auffassung des Senats kaum mehr Aufwand erfordert, als eine
Anfrage bei einem deutschen Einwohnermeldeamt. Erst wenn das
Auskunftsersuchen ergeben hätte, dass die Anschrift des Klägers auch auf
diese Weise nicht zu ermitteln gewesen wäre, hätte das FA öffentlich
zustellen dürfen.
37
b) Zutreffend hat das FG entschieden, dass
die Voraussetzungen einer öffentlichen Zustellung gemäß § 15 Abs. 1 Buchst.
c VwZG a.F. ebenfalls nicht vorlagen.
38
aa) Eine Auslandszustellung verspricht nach
dieser Regelung keinen Erfolg, wenn sie an sich möglich wäre, ihre
Durchführung aber etwa wegen Kriegs, Abbruchs der diplomatischen
Beziehungen, Verweigerung der Rechtshilfe oder unzureichender Vornahme durch
die örtlichen Behörden nicht zu erwarten ist. Im Streitfall kommt - wie das
FG zutreffend erkannt hat - allenfalls das Merkmal in Betracht, dass es bei
der Auslandszustellung in Spanien zu einer Verweigerung der Rechtshilfe oder
mangelnden Unterstützung örtlicher Behörden gekommen wäre. Unter dieses
Merkmal kann nach der Rechtsprechung und dem Schrifttum auch der im
Streitfall vorliegende Sachverhalt subsumiert werden, dass ein
Zustellungsempfänger im Ausland lebt, sein Aufenthaltsort dort aber
unbekannt ist (vgl. BFH-Urteil vom 13. März 1973 VII R 53/70, BFHE 109, 213,
BStBl II 1973, 644; Beschluss des Sächsischen FG vom 27. Oktober 20053 V
248/05, n.v.; Engelhardt/App, a.a.O., § 10 VwZG Rz 7).
39
bb) Die Amtshilferichtlinie vom 19.
Dezember 1977 sieht die Zustellungshilfe eines Mitgliedstaats für
Steuerbescheide eines anderen Mitgliedstaats im Zustellungsjahr des
Streitfalls (2003) noch nicht ausdrücklich vor. Es ist daher davon
auszugehen, dass spanische Behörden keine Zustellungshilfe auf dieser
Grundlage gewährt hätten. Erst mit der Richtlinie 2004/56/EG des Rates vom
21. April 2004 zur Änderung der Richtlinie 77/799/EWG über die gegenseitige
Amtshilfe zwischen den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten im Bereich
der direkten Steuern, bestimmter Verbrauchsteuern und der Steuern auf
Versicherungsprämien ist die Amtshilferichtlinie entsprechend erweitert und
Art. 8a Abs. 1 eingefügt worden, nachdem auf Antrag die ersuchte Behörde
eines anderen Mitgliedstaats Steuerbescheide nach Maßgabe ihres nationalen
Rechts in ihrem Hoheitsgebiet zustellt.
40
cc) Auf der Grundlage des Art. 26 DBA
Spanien wurde im Jahr 2003 ebenfalls keine Zustellungshilfe durch spanische
Behörden gewährt, allerdings hat Spanien keine Einwände gegen Zustellungen
durch ausländische Auslandsvertretungen (hier: gemäß § 14 VwZG a.F.) auf
seinem Territorium erhoben (vgl. Höppner, in:
Becker/Höppner/Grotherr/Kroppen, a.a.O., Art. 26 DBA Spanien Rz 1 und Art.
26 OECD-MA Rz 31; Engelschalk in Vogel/ Lehner, a.a.O., Art. 26 Rz 9).
41
dd) Demnach konnten im Jahr 2003 deutsche
Steuerbescheide in Spanien nur über die deutschen Auslandsvertretungen gemäß
§ 14 VwZG a.F. zugestellt werden. Wenn das Aufenthaltsland des
Zustellungsempfängers bekannt, die konkrete Anschrift dort aber nicht
bekannt war, war eine Auslandszustellung gemäß § 14 VwZG a.F. i.S. des § 15
Abs. 1 Buchst. c VwZG a.F. unausführbar, wenn mindestens ein zeitnaher
gescheiterter Zustellungsversuch vorlag (vgl. z.B. BFH-Urteil in BFHE 109,
213, BStBl II 1973, 644; Beschluss des Sächsischen FG vom 27. Oktober 20053
V 248/05, n.v.). Das FG hat für den Senat bindend festgestellt, dass das FA
für den Einkommensteuerbescheid des Streitjahres überhaupt keinen förmlichen
Zustellungsversuch gemäß § 14 VwZG a.F. in Spanien unternommen hat.
42
c) Im Streitfall ist der
Einkommensteuerbescheid des Streitjahres somit erst durch die Übergabe der
Bescheidkopien an den Bevollmächtigten des Klägers Ende April 2004
bekanntgegeben worden (vgl. zur Heilung des Zustellungsmangels durch
Übergabe einer Fotokopie des Steuerbescheids den Senatsbeschluss in BFH/NV
2009, 195; BFH-Urteil in BFHE 192, 200, BStBl II 2000, 560). Hiergegen hat
der Kläger fristgerecht Einspruch erhoben. Das FG-Urteil ist demnach nicht
zu beanstanden, soweit das FG die Einspruchsentscheidung aufgehoben hat. Das
FA hat im Einspruchsverfahren den Einkommensteuerbescheid des Streitjahres
nunmehr vollinhaltlich zu prüfen (§ 367 Abs. 2 Satz 1 AO) und den Kläger
erneut zu bescheiden.
43
3. Die Revision des FA ist auch insoweit
unbegründet, als das FA begehrt, das FG-Urteil hinsichtlich der
Feststellung, die öffentliche Zustellung des Einkommensteuerbescheids des
Streitjahres sei unwirksam, aufzuheben.
44
a) Die Feststellungsklage unter Nr. 2 des
Klageantrags ist zulässig.
45
aa) Das Vorliegen der
Sachurteilsvoraussetzungen hat der BFH als Revisionsgericht von Amts wegen
in jeder Lage des Verfahrens zu prüfen (BFH-Urteil vom 3. April 2008 IV R
54/04, BFHE 220, 495, BStBl II 2008, 742, m.w.N.). Die sog. Subsidiarität
der Feststellungsklage (§ 41 Abs. 2 Satz 1 FGO) ist eine negative
Sachentscheidungsvoraussetzung (BFH-Urteile vom 3. September 2009 IV R
38/07, BFHE 226, 283, BStBl II 2010, 60; vom 10. Mai 1977 VII R 69/76, BFHE
123, 94, BStBl II 1977, 785; Steinhauff in HHSp, § 41 FGO Rz 350).
46
bb) Gemäß § 41 Abs. 2 Satz 1 FGO kann eine
Feststellung nicht begehrt werden, soweit der Kläger seine Rechte durch eine
Gestaltungs- oder Leistungsklage verfolgen kann. Dies gilt aufgrund der
Rückausnahme in § 41 Abs. 2 Satz 2 FGO nicht, wenn die Feststellung der
Nichtigkeit eines Verwaltungsakts begehrt wird. Die Voraussetzungen des § 41
Abs. 2 Satz 2 FGO liegen auch im Streitfall vor. Der Senat schließt sich den
Überlegungen des FG Hamburg in der Entscheidung vom 14. August 2002 V 285/01
(n.v.) an. In dieser Entscheidung hat das FG Hamburg erkannt, eine
Feststellungsklage, die erhoben werde, um den Rechtsschein der
ordnungsgemäßen Bekanntgabe eines Verwaltungsakts zu beseitigen, sei gemäß §
41 Abs. 2 Satz 2 FGO wie eine Klage zu behandeln, die auf die Feststellung
der Nichtigkeit eines bestimmten Verwaltungsakts gerichtet sei. Deshalb
könne eine solche Feststellungsklage neben einer gegen den Bescheid
gerichteten Anfechtungsklage erhoben werden. Die im Streitfall erhobene
Feststellungsklage ist in entsprechender Anwendung dieses Grundsatzes neben
der vom Kläger erhobenen isolierten Anfechtungsklage zulässig, obwohl die
mit der Feststellungsklage begehrte Frage, ob die öffentliche Zustellung
wirksam war, zugleich als materielle Vorfrage im Rahmen der isolierten
Anfechtungsklage gegen die Einspruchsentscheidung zu klären ist.
47
b) Das FG hat in der Sache zutreffend die
begehrte Feststellung ausgesprochen (vgl. oben unter II.2.a dd).
48
4. Die Revision ist schließlich auch
unbegründet, als sie sich gegen den Streitgegenstand unter Nr. 3 des
Klageantrags richtet. Das Feststellungsbegehren ist insoweit aus denselben
Erwägungen (wie unter II.3.a. dargelegt) zulässig. Die revisionsgerichtliche
Prüfung beschränkt sich aufgrund der begrenzten materiellen Beschwer des FA
hinsichtlich dieses Streitgegenstandes auf die Frage, ob das FG zutreffend
entschieden hat, dass der Einkommensteuerbescheid des Streitjahres erst
bekanntgegeben worden ist, als das FA dem Bevollmächtigten des Klägers Ende
April 2004 die Bescheidkopie übersandt hat (vgl. zur Beschwer des FA oben
unter II.1.). Dies hat das FG in der Sache zutreffend bejaht.
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