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BFH-Urteil vom 17.6.2010 (III R 34/09) BStBl. 2010 II S. 982
Vollzeiterwerbstätigkeit schließt die Berücksichtigung als Kind nicht aus
Die
Vollzeiterwerbstätigkeit eines Kindes schließt seine Berücksichtigung als
Kind, das sich in einer Übergangszeit befindet (§ 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2
Buchst. b EStG) oder auf einen Ausbildungsplatz wartet (§ 32 Abs. 4 Satz 1
Nr. 2 Buchst. c EStG), nicht aus (Änderung der Rechtsprechung).
EStG § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b und
c, Abs. 4 Satz 2.
Vorinstanz: FG Baden-Württemberg vom 16.
Dezember 2008 4 K 4658/08 (EFG 2009, 1759)
Sachverhalt
I.
1
Der im August 1984 geborene
Sohn (S) der Klägerin und Revisionsbeklagten (Klägerin) bestand im Februar
2005 die Abschlussprüfung als Werkzeugmechaniker und wurde im Anschluss von
dem bisherigen Ausbildungsbetrieb übernommen. Zum 31. August 2008 verließ er
das Unternehmen auf eigenen Wunsch und besucht seit September 2008 eine
Fachschule für Technik mit dem Ziel, einen Abschluss als staatlich geprüfter
Techniker Mechatronik zu erreichen. Bereits im März 2008 hatte ihm die
Schule mitgeteilt, dass er für das Schuljahr 2008/2009 in die Fachschule für
Technik aufgenommen werden könne.
2
Im Juli 2008 beantragte die
Klägerin Kindergeld für S und gab an, dass er sich ab September
3
Das Finanzgericht (FG) gab
der Klage mit Urteil vom 16. Dezember 20084 K 4658/08 (Entscheidungen der
Finanzgerichte 2009, 1759) statt und verpflichtete die Familienkasse zur
Festsetzung von Kindergeld für die Monate September bis Dezember 2008. Der
Klägerin stehe für diese Monate Kindergeld für S zu, denn S befinde sich in
dieser Zeit in Berufsausbildung und es sei nicht zu erwarten, dass seine
Einkünfte und Bezüge in diesem Zeitraum den - anteiligen - Grenzbetrag nach
§ 32 Abs. 4 Satz 2 des Einkommensteuergesetzes in der für das Streitjahr
2008 geltenden Fassung (EStG) übersteigen würden. In dem Zeitraum von März
bis August 2008 sei S nicht als Kind zu berücksichtigen. S habe sich zwar
spätestens im März 2008 um einen Ausbildungsplatz bemüht und habe den ihm
zugesagten Ausbildungsplatz erst zu einem späteren Zeitpunkt antreten
können. Da er aber (weiterhin) einer Vollzeiterwerbstätigkeit nachgegangen
sei, sei der Tatbestand des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c EStG nicht
erfüllt.
4
Mit ihrer Revision rügt die
Familienkasse eine fehlerhafte Auslegung von § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2
Buchst. c i.V.m. § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG.
5
Sie beantragt, das Urteil
des FG aufzuheben und die Klage abzuweisen.
6
Die Klägerin beantragt, die
Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II.
7
Die Revision ist begründet. Sie führt zur
Aufhebung des angegriffenen Urteils und zur Abweisung der Klage (§ 126 Abs.
3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung - FGO -). Der Ablehnungsbescheid
der Familienkasse vom 20. August 2008 und die hierzu ergangene
Einspruchsentscheidung vom 1. September 2008 sind rechtmäßig.
8
1. Für ein über 18 Jahre altes Kind, das -
wie S im Streitjahr 2008 - das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet hat,
besteht nach § 62 Abs. 1, § 63 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr.
2, § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG Anspruch auf Kindergeld u.a. dann, wenn das Kind
für einen Beruf ausgebildet wird (§ 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a EStG)
oder eine Berufsausbildung mangels Ausbildungsplatzes nicht beginnen oder
fortsetzen kann (§ 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c EStG) und seine zur
Bestreitung des Unterhalts oder der Berufsausbildung bestimmten oder
geeigneten Einkünfte und Bezüge 7.680 EUR im Kalenderjahr nicht übersteigen.
Für jeden Kalendermonat, in dem die Voraussetzungen des § 32 Abs. 4 Satz 1
Nr. 1 oder 2 EStG an keinem Tag vorliegen, ermäßigt sich der Betrag nach §
32 Abs. 4 Satz 2 EStG um ein Zwölftel; Einkünfte und Bezüge des Kindes, die
auf diese Kalendermonate entfallen, bleiben außer Ansatz (§ 32 Abs. 4 Sätze
7 und 8 EStG).
9
10
3. Entgegen der Auffassung des FG wird der
Tatbestand des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c EStG nicht dadurch
ausgeschlossen, dass S in den danach auch zu berücksichtigenden Monaten März
bis August 2008 einer Vollzeiterwerbstätigkeit nachging:
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a) Eine Vollzeiterwerbstätigkeit konnte
eine Berücksichtigung als Kind nach bisheriger Rechtsprechung des BFH
ausschließen, wenn das Kind sie in einer Übergangszeit i.S. des § 32 Abs. 4
Satz 1 Nr. 2 Buchst. b EStG oder während des Wartens auf einen
Ausbildungsplatz i.S. des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c EStG ausübte
(z.B. BFH-Urteile vom 19. Oktober 2001 VI R 39/00, BFHE 197, 92, BStBl II
2002, 481; vom 14. Mai 2002 VIII R 83/98, BFH/NV 2002, 1551; Senatsurteile
in BFHE 211, 452, BStBl II 2006, 305; vom 23. Februar 2006 III R 82/03, BFHE
212, 476, BStBl II 2008, 702, und III R 8/05, 46/05, BFHE 212, 486, BStBl II
2008, 704; vom 20. Juli 2006 III R 58/05, BFH/NV 2006, 2249, und III R
78/04, BFH/NV 2006, 2248; vom 16. November 2006 III R 15/06, BFHE 216, 74,
BStBl II 2008, 56; vom 15. März 2007 III R 25/06, BFH/NV 2007, 1481).
Begründet wurde dies damit, dass der Gesetzgeber auch bei den in § 32 Abs. 4
Satz 1 Nr. 2 Buchst. b und c EStG geregelten Berücksichtigungstatbeständen
davon ausgegangen sei, dass sich das Kind typischerweise in einer
Unterhaltssituation befinde, die derjenigen während einer Berufsausbildung
(§ 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a EStG) entspreche. Hieran - und damit an
einer durch die Unterhaltslasten bedingten Minderung der Leistungsfähigkeit
der Eltern, die eine Entlastung durch Kindergeld bzw. durch einen
Kinderfreibetrag rechtfertige - fehle es jedoch typischerweise, wenn das
Kind einer Vollzeiterwerbstätigkeit nachgehe. Unabhängig von der Höhe der
von dem Kind in dieser Zeit erzielten Einkünfte und Bezüge bestehe daher
typischerweise keine Unterhaltspflicht der Eltern.
12
b) An dieser Rechtsprechung hält der Senat
nicht mehr fest.
13
aa) Nach der Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) ist es verfassungsrechtlich geboten, der
durch Unterhaltsleistungen für Kinder geminderten Leistungsfähigkeit der
Eltern Rechnung zu tragen (vgl. hierzu BVerfG-Beschluss vom 29. Mai 19901
BvL 20/84, 1 BvL 26/84, 1 BvL 4/86, BVerfGE 82, 60, BStBl II 1990, 653).
Deshalb werden Kinder unter den Voraussetzungen des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nrn.
1 und 2 EStG auch nach Volljährigkeit noch berücksichtigt. Der Gesetzgeber
geht davon aus, dass den Eltern typischerweise Unterhaltsaufwendungen
entstehen, wenn das Kind z.B. noch für einen Beruf ausgebildet wird, sich
zwischen zwei Ausbildungsabschnitten befindet oder auf einen
Ausbildungsplatz wartet (vgl. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a bis c
EStG). Eine typische Unterhaltssituation ist aber kein ungeschriebenes
Tatbestandsmerkmal der einzelnen Berücksichtigungstatbestände. Ob ein Kind
wegen eigener Einkünfte typischerweise nicht auf Unterhaltsleistungen der
Eltern angewiesen und deshalb nicht als Kind zu berücksichtigen ist, ist
nach der gesetzlichen Regelung nicht bei der Prüfung der
Tatbestandsvoraussetzungen des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nrn. 1 und 2 EStG zu
ermitteln, sondern erst auf einer zweiten Stufe bei der Prüfung nach § 32
Abs. 4 Satz 2 EStG, ob die Einkünfte und Bezüge des Kindes den maßgebenden
Grenzbetrag überschreiten (z.B. BFH-Urteile vom 16. April 2002 VIII R 58/01,
BFHE 199, 111, BStBl II 2002, 523; vom 26. November 2003 VIII R 30/03,
BFH/NV 2004, 1223; vom 17. Februar 2004 VIII R 84/03, BFH/NV 2004, 1229; vom
30. November 2004 VIII R 9/04, BFH/NV 2005, 860; vgl. auch Helmke in
Helmke/Bauer, Familienleistungsausgleich, Kommentar, Fach A, I.
Kommentierung, § 32 Rz 25; Schmidt/Loschelder, EStG, 29. Aufl., § 32 Rz 22).
Der Gesetzgeber unterstellt typisierend, dass Eltern nicht (mehr) mit
Unterhaltsaufwendungen für das Kind belastet sind und ihre
Leistungsfähigkeit damit derjenigen kinderloser Steuerpflichtiger entspricht
(z.B. BFH-Urteile in BFHE 199, 111, BStBl II 2002, 523, und vom 16. April
2002 VIII R 96/01, BFH/NV 2002, 1027), wenn die Einkünfte und Bezüge des
Kindes den maßgebenden Grenzbetrag übersteigen. Ob Unterhaltsverpflichtungen
der Eltern typischerweise vorliegen, hängt nach der gesetzlichen Regelung
nicht von der Situation in den einzelnen Monaten ab, in denen die Kinder
einen Tatbestand nach § 32 Abs. 4 Satz 1 EStG erfüllen, sondern von der Höhe
der Einkünfte und Bezüge des Kindes in dem gesamten Zeitraum, in dem sie die
Voraussetzungen eines Berücksichtungstatbestands des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr.
1 oder 2 EStG erfüllen.
14
bb) Diese Regelung verstößt nicht gegen das
verfassungsrechtliche Gebot, das Existenzminimum einer Familie steuerfrei zu
belassen. Es ist in der Rechtsprechung des BFH geklärt, dass insbesondere
der Grenzbetrag des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG selbst, der in etwa dem
steuerfreien Existenzminimum entspricht, verfassungsrechtlich unbedenklich
ist. Nicht zu beanstanden ist auch, dass der Gesetzgeber sich insoweit für
einen Jahres- und nicht für einen Monatsgrenzbetrag entschieden hat. Er
durfte typisierend davon ausgehen, dass ein Kind, das in einem Kalenderjahr
Einkünfte und Bezüge in einer bestimmten Höhe erzielt, während des ganzen
Jahres nicht unterhaltsbedürftig ist. § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG ist eine
typisierende Regelung, die der Vereinfachung der Rechtsanwendung dienen und
in vertretbarem Umfang Verwaltungsmehraufwand vermeiden soll. Ein
Monatsgrenzbetrag würde gegenüber dem Jahresgrenzbetrag aber zu erheblichem
Verwaltungsmehraufwand führen, da die Familienkassen gezwungen wären, die
Einkünfte und Bezüge für dem Grunde nach zu berücksichtigende Kinder
monatlich festzustellen (z.B. BFH-Urteil vom 13. Juli 2004 VIII R 20/02,
BFH/NV 2005, 36).
15
cc) Nach diesen Rechtsgrundsätzen schließt
eine Vollzeiterwerbstätigkeit neben einer ernsthaft und nachhaltig
betriebenen Ausbildung die Berücksichtigung als Kind in der Berufsausbildung
(§ 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a EStG) nicht aus; ebenso wenig kommt es
für die Beurteilung einer Maßnahme als Berufsausbildung darauf an, ob diese
im Rahmen eines den vollen Lebensunterhalt des Kindes sicherstellenden
Dienstverhältnisses erfolgt. Der Tatbestand der Berufsausbildung wird nicht
für die Monate ausgeschlossen, in denen das Kind über Einkünfte und Bezüge
in einer solchen Höhe verfügt, dass es auf Unterhaltsleistungen der Eltern
nicht angewiesen ist (z.B. BFH-Urteile in BFH/NV 2005, 860; vom 14. Dezember
2004 VIII R 44/04, BFH/NV 2005, 1039; Senatsbeschluss vom 31. Juli 2008 III
B 64/07, BFHE 222, 471; Senatsurteile vom 22. Oktober 2009 III R 29/08,
BFH/NV 2010, 627; vom 21. Januar 2010 III R 62/08, BFH/NV 2010, 871, und III
R 68/08, BFH/NV 2010, 872; vom 24. Februar 2010 III R 3/08, BFH/NV 2010,
1262).
16
dd) Gleiches gilt für die
Berücksichtigungstatbestände des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b und c
EStG. Auch hier hängt die Erfüllung des jeweiligen
Berücksichtigungstatbestands nicht davon ab, dass in jedem Monat eine
typische Unterhaltssituation gegeben ist, die vermuten lässt, dass die
Eltern mit Unterhaltsaufwendungen belastet waren. Vielmehr entscheidet sich
erst bei der Prüfung, ob Einkünfte und Bezüge des Kindes den (ggf.
anteiligen) Jahresgrenzbetrag des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG überschreiten, ob
den Eltern typischerweise Unterhaltsaufwendungen entstanden sind. Bei der
Grenzbetragsprüfung kommt es weder auf die Herkunft der Einkünfte und Bezüge
an noch darauf, in welchen Monaten innerhalb des Berücksichtigungszeitraums
sie zugeflossen sind. Dass danach im Einzelfall der Kindergeldanspruch nicht
nur für die Monate entfällt, in denen das Kind vollzeiterwerbstätig ist,
sondern auch für die Zeiträume eines Jahres, in denen die steuerliche
Leistungsfähigkeit der Eltern durch die Ausbildung des Kindes gemindert ist,
beruht auf dem Jahresprinzip des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG. Sind im Fall des
Überschreitens des Jahresgrenzbetrags die Einkünfte und Bezüge eines Kindes
in den einzelnen Berücksichtigungsmonaten unterschiedlich hoch, so ist es
nach dem Jahresprinzip ausgeschlossen, Kindergeld für einzelne Monate, in
denen keine oder nur geringe Einkünfte oder Bezüge zugeflossen sind, zu
gewähren (z.B. Senatsbeschlüsse in BFHE 222, 471, und vom 19. September 2008
III B 102/07, BFH/NV 2009, 16; vgl. ferner Senatsurteile in BFH/NV 2010,
627, und in BFH/NV 2010, 1262).
17
c) Mit der vorliegenden Entscheidung weicht
der Senat zwar von Entscheidungen des VI. Senats (z.B. von dem Urteil in
BFHE 197, 92, BStBl II 2002, 481) und des VIII. Senats (z.B. von dem Urteil
in BFH/NV 2002, 1551) ab. Eine Anfrage bei diesen Senaten ist jedoch nicht
erforderlich, da diese Senate nach dem Geschäftsverteilungsplan des BFH für
Fragen betreffend §§ 31, 32 EStG und Kindergeld (§§ 62 bis 78 EStG) nicht
mehr zuständig sind.
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4. Das FG ist von anderen Grundsätzen
ausgegangen. Sein Urteil war daher aufzuheben und die Klage abzuweisen. S
war nicht nur in den Monaten September bis Dezember 2008 (nach § 32 Abs. 4
Satz 1 Nr. 2 Buchst. a EStG), sondern auch in den vorangegangenen Monaten
März bis August 2008 (nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c EStG) als Kind
zu berücksichtigen. Da seine Einkünfte und Bezüge in dem danach insgesamt zu
berücksichtigenden Zeitraum März bis Dezember 2008 den Feststellungen des FG
zufolge den anteiligen Jahresgrenzbetrag überschreiten würden, hat die
Familienkasse den Kindergeldantrag der Klägerin zu Recht abgelehnt.
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