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BFH-Urteil vom 14.7.2010 (X R 61/08) BStBl. 2010 II S. 1011
Vorrangige Verrechnung des Freibetrags nach § 16 Abs. 4 EStG mit nicht
tarifbegünstigten Veräußerungsgewinnen
Erzielt der Steuerpflichtige einen Veräußerungsgewinn i.S. des § 16 Abs. 1
EStG, der sowohl dem Halbeinkünfteverfahren unterliegende als auch in voller
Höhe zu besteuernde Gewinne enthält, wird der Freibetrag gemäß § 16 Abs. 4
EStG für Zwecke der Ermittlung der nach § 34 Abs. 1 und 3 EStG tarifermäßigt
zu besteuernden Gewinne vorrangig mit dem Veräußerungsgewinn verrechnet, auf
den das Halbeinkünfteverfahren anzuwenden ist.
EStG § 16 Abs. 1 und 4, § 34 Abs. 1 bis 3.
Vorinstanz: Niedersächsisches FG vom 12. November 2008 3 K 21/06 (EFG 2009,
470)
Sachverhalt
I.
Der am 3. April 1942 geborene Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) war im
Streitjahr 2002 an der B-Grundstücksgemeinschaft in H beteiligt. Aus dieser
Beteiligung erzielte der Kläger im Streitjahr einen steuerpflichtigen
Veräußerungsgewinn i.S. des § 16 des Einkommensteuergesetzes in der im
Streitjahr geltenden Fassung (EStG) von insgesamt 127.816,08 EUR. Dieser
setzt sich zusammen aus einem gemäß § 3 Nr. 40 EStG dem
Halbeinkünfteverfahren unterliegenden Veräußerungsgewinn von 63.911,47 EUR
(= 1/2 von 127.822.94 EUR) und einem anderen, in vollem Umfang
steuerpflichtigen Veräußerungsgewinn von 63.904,61 EUR. Für diesen Gewinn
beanspruchte der Kläger den Freibetrag gemäß § 16 Abs. 4 EStG.
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Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt - FA -) rechnete den
Freibetrag nach § 16 Abs. 4 EStG in Höhe von 51.200 EUR anteilig auf die in
dem Veräußerungsgewinn enthaltenen steuerpflichtigen Halbeinkünfte und im
Übrigen auf den in diesem Gewinn enthaltenen voll steuerpflichtigen
Veräußerungsgewinn an. Danach entfiel auf den zuletzt genannten
Veräußerungsgewinn ein Anteil von 25.598,46 EUR (= 63.904,61 EUR :
127.816,08 EUR = 49,997316 % von 51.200 EUR). Der voll zu besteuernde
Veräußerungsgewinn verminderte sich hierdurch auf (gerundet) 38.307 EUR.
Diesen Betrag unterwarf das FA dem ermäßigten Steuersatz gemäß § 34 Abs. 3
EStG.
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Demgegenüber machte der Kläger mit seiner nach erfolglosem Vorverfahren
erhobenen Klage geltend, der Freibetrag nach § 16 Abs. 4 EStG sei vorrangig
mit dem steuerpflichtigen Teil des dem Halbeinkünfteverfahren unterliegenden
Veräußerungsgewinns zu verrechnen.
4
Das Finanzgericht (FG) gab der Klage durch sein in Entscheidungen der
Finanzgerichte 2009, 470 veröffentlichtes Urteil in vollem Umfang statt. Der
Freibetrag nach § 16 Abs. 4 EStG sei vorrangig mit dem (steuerpflichtigen)
Veräußerungsgewinn zu verrechnen, auf den das Halbeinkünfteverfahren
anzuwenden sei.
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Mit der Revision macht das FA geltend, die angefochtene Entscheidung
verletze § 16 Abs. 4 i.V.m. § 34 EStG. Eine vorrangige Berücksichtigung des
Freibetrags bei den nicht gemäß § 34 Abs. 3 EStG tarifermäßigt zu
besteuernden Einkünften würde im Ergebnis eine nicht gerechtfertigte
doppelte Begünstigung bewirken. Zu der hälftigen Steuerfreiheit komme die
Gewährung des Freibetrags hinzu. Das FG ziehe aus den von ihm zitierten
Urteilen des Bundesfinanzhofs (BFH) zu Unrecht den Schluss, es sei von einer
Meistbegünstigung auszugehen. Dass im Falle des Verlustausgleichs der dem
Steuerpflichtigen tatsächlich entstandene Verlust die nur ermäßigt zu
besteuernden außerordentlichen Einkünfte i.S. des § 34 EStG nicht mindern
solle, sei im Hinblick auf das Prinzip der Besteuerung nach der
Leistungsfähigkeit folgerichtig. Auch die BFH-Rechtsprechung, wonach der
Arbeitnehmer-Pauschbetrag vorrangig bei den tariflich zu besteuernden
Lohneinkünften abzuziehen sei, sei konsequent. Es handele sich um
pauschalierte Werbungskosten, die nicht im Zusammenhang mit einer nach § 34
EStG begünstigten Entschädigung stünden.
6
Das FA beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage
abzuweisen.
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Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.
8
Der Hinweis in der Revisionsbegründung, dass eine Doppelbegünstigung
(Halbeinkünfte einerseits und Freibetrag andererseits) gegeben sei,
berücksichtige nicht, dass das Halbeinkünfteverfahren keine
Steuervergünstigung sei. Vielmehr sei es die Folge einer systemgerechten
Verteilung der Ertragsteuern auf Gesellschafts- und Gesellschafterebene nach
Abschaffung des körperschaftssteuerlichen Anrechnungsverfahrens.
Entscheidungsgründe
II.
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Die Revision ist unbegründet und daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der
Finanzgerichtsordnung - FGO -). Zu Recht hat das FG entschieden, dass der
Freibetrag nach § 16 Abs. 4 EStG vorrangig von dem steuerpflichtigen Anteil
des dem Halbeinkünfteverfahren unterfallenden Veräußerungsgewinns abzuziehen
ist.
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1. Zutreffend hat das FG den Freibetrag gemäß § 16 Abs. 4 EStG mit 51.200
EUR angesetzt.
11
a) Hat der Steuerpflichtige das 55. Lebensjahr vollendet oder ist er im
sozialversicherungsrechtlichen Sinne dauernd berufsunfähig, so wird der
Veräußerungsgewinn auf Antrag zur Einkommensteuer nur herangezogen, soweit
er 51.200 EUR übersteigt. Der Freibetrag ist dem Steuerpflichtigen nur
einmal zu gewähren. Er ermäßigt sich um den Betrag, um den der
Veräußerungsgewinn 154.000 EUR übersteigt.
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Ist in dem Veräußerungsgewinn ein nach dem Halbeinkünfteverfahren zu
ermittelnder Veräußerungsgewinn enthalten, kann Bestandteil des
Veräußerungsgewinns i.S. des § 16 Abs. 4 EStG insoweit nur der
steuerpflichtige Teil dieses Gewinns sein. Dies entspricht dem
Gesetzeswortlaut und ist soweit ersichtlich einhellige Rechtsauffassung.
Auch ist bei der Berechnung der Ermäßigungsgrenze nach Satz 3 dieser
Vorschrift insoweit ebenfalls nur der steuerpflichtige Gewinnanteil zu
berücksichtigen (vgl. R 16 (13) Satz 10 der Einkommensteuer-Richtlinien -
EStR - 2008; Schmidt/Wacker, EStG, 29. Aufl., § 16 Rz 578, 587).
13
b) Da im Streitfall der im Rahmen des § 16 Abs. 4 EStG anzusetzende
steuerpflichtige Veräußerungsgewinn von 127.816,08 EUR die Ermäßigungsgrenze
des § 16 Abs. 4 Satz 3 EStG nicht übersteigt, ist ein Freibetrag von 51.200
EUR zu berücksichtigen.
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2. Der Freibetrag ist vorrangig von dem dem Halbeinkünfteverfahren
unterliegenden Veräußerungsgewinn abzuziehen.
15
a) Diese Auffassung wird ganz überwiegend im Schrifttum vertreten
(Hagen/Schynol, Der Betrieb 2001, 397; Kobor in Herrmann/Heuer/Raupach, § 16
EStG Rz 515; Prinz/Hick, Finanz-Rundschau 2006, 168; Hörger/Rapp in
Littmann/Bitz/Pust, Das Einkommensteuerrecht, § 16 Rz 242; Paus, Deutsche
Steuer-Zeitung 2003, 523; Schmidt/Wacker, a.a.O., § 16 Rz 587;
Schneider/Hoffmann, Steuerberatung 2009, 221; Stahl, Kölner Steuerdialog
2001, 12838, welcher für ein Wahlrecht eintritt).
16
Demgegenüber ist nach Auffassung der Finanzverwaltung (Schreiben des
Bundesministeriums der Finanzen vom 20. Dezember 2005, BStBl I 2006, 7,
unter II., und H 16 (13) der Einkommensteuerhinweise 2009) der Freibetrag
aufzuteilen. Aufteilungsmaßstab sind die jeweiligen Anteile der nach § 34
Abs. 3 EStG und nach dem Halbeinkünfteverfahren zu versteuernden Gewinne am
Gesamtgewinn. Dieser Auffassung hat sich ein Teil der Literatur
angeschlossen (Reiß in Kirchhof, EStG, 9. Aufl., § 16 Rz 282; ebenso wohl
Blümich/Stuhrmann, § 16 EStG Rz 453a).
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b) Dem Wortlaut des § 16 Abs. 4 EStG kann keine Verwendungsreihenfolge
entnommen werden. Der bloße Gesetzeswortlaut lässt es daher zu, den
ungeteilten Freibetrag vorrangig einem bestimmten Gewinnanteil zuzuordnen.
Andererseits ist auch eine verhältnismäßige Zuordnung des Freibetrags zu den
jeweiligen Teilen des Veräußerungsgewinns mit dem Gesetzeswortlaut zu
vereinbaren.
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c) Der erkennende Senat folgt der überwiegenden Literaturauffassung.
19
aa) Es entspricht der ständigen BFH-Rechtsprechung, dass die nach § 34 EStG
begünstigten Einkünfte innerhalb der Summe der Einkünfte bzw. der jeweiligen
Einkunftsart eine "besondere Abteilung" darstellen (z.B. Urteile vom 29.
Juli 1966 IV 299/65, BFHE 86, 486, BStBl III 1966, 544, und vom 29. Oktober
1998 XI R 63/97, BFHE 188, 143, BStBl II 1999, 588). Der sachliche Umfang
der außerordentlichen Einkünfte, die in § 34 Abs. 2 EStG i.V.m. den darin
aufgeführten Normen definiert werden, ist für sich gesondert entsprechend
den Bestimmungen des § 2 Abs. 2 EStG i.V.m. §§ 4 bis 7k bzw. §§ 8 bis 9a
EStG zu berechnen (BFH-Urteil vom 13. August 2003 XI R 27/03, BFHE 204, 433,
BStBl II 2004, 547). Dabei sind Faktoren, welche die Höhe der Einkünfte
vermindern, vorrangig durch Kürzung der tariflich zu besteuernden Einkünfte
zu berücksichtigen. Dies dient dazu, dem Steuerpflichtigen die
Tarifermäßigung, soweit irgend möglich, zu Gute kommen zu lassen. Die
außerordentlichen Einkünfte werden nur dann und nur insoweit gekürzt, als
für eine Kürzung die tariflich zu besteuernden Einkünfte nicht ausreichen.
Außerordentliche Einkünfte sind nur um die mit ihnen in unmittelbarem
Zusammenhang stehenden Betriebsausgaben bzw. Werbungskosten zu kürzen (zu
Vorstehendem vgl. Senatsurteil vom 2. September 2008 X R 15/06, BFH/NV 2009,
138).
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bb) Aus diesem Grund ist z.B. der Arbeitnehmer-Pauschbetrag (§ 9a Satz 1 Nr.
1 EStG) nicht zwischen ermäßigt zu besteuernden Einkünften aus
nichtselbständiger Arbeit und tariflich zu besteuernden Einkünften dieser
Einkunftsart aufzuteilen. Vielmehr ist dieser Pauschbetrag in erster Linie
von den tariflich zu besteuernden Einkünften abzuziehen, soweit solche zur
Verfügung stehen (BFH-Urteil in BFHE 188, 143, BStBl II 1999, 588).
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Auch ein Verlustausgleich, welcher infolge der Verrechnung von negativen
Einkünften mit positiven Einkünften dazu führt, dass die positiven Einkünfte
i.S. des § 34 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 Satz 1 EStG nur mit entsprechend
verringerten Beträgen in dem zu versteuernden Einkommen enthalten sind, ist
vorrangig mit tariflich zu besteuernden Einkünften vorzunehmen, soweit
solche zur Verfügung stehen (ebenfalls ständige Rechtsprechung; vgl. z.B.
BFH-Urteil vom 26. Januar 1995 IV R 23/93, BFHE 177, 71, BStBl II 1995,
467).
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Der Altersentlastungsbetrag (§ 24a EStG) ist ebenfalls im Wege der
Meistbegünstigung vorrangig von den nicht tarifbegünstigten Einkünften
abzuziehen (BFH-Urteil vom 15. Dezember 2005 IV R 68/04, BFH/NV 2006, 723).
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Sind in dem Einkommen Einkünfte aus Land- und Forstwirtschaft enthalten und
bestehen diese zum Teil aus außerordentlichen, nach § 34 EStG ermäßigt zu
besteuernden Einkünften, muss im Rahmen der Anwendung dieser Vorschrift der
Freibetrag nach § 13 Abs. 3 EStG zunächst von den nicht nach § 34 EStG
begünstigten Einkünften abgezogen werden (R 34.1 Abs. 1 Satz 5 EStR 2008).
24
cc) Dementsprechend ist nach Ansicht des erkennenden Senats der Freibetrag
nach § 16 Abs. 4 EStG im Wege der Meistbegünstigung vorrangig von dem nicht
tarifbegünstigten Veräußerungsgewinn abzuziehen.
25
Dem steht die Wertung des § 34 Abs. 2 Nr. 1 EStG nicht entgegen, wonach im
Halbeinkünfteverfahren ermittelte Veräußerungsgewinne keine
außerordentlichen Einkünfte im Sinne dieser Vorschrift sind. Damit will der
Gesetzgeber sicherstellen, dass nur solche Gewinne der ermäßigten
Besteuerung unterliegen, die in vollem Umfang zu besteuern sind. Nach
Ansicht des Gesetzgebers sind hingegen Gewinne, die im Rahmen des
Halbeinkünfteverfahrens zu ermitteln sind, bereits hierdurch steuerlich
begünstigt (kritisch hierzu z.B. Hörger/Rapp in Littmann/Bitz/ Pust, a.a.O.,
§ 16 Rz 242). Der Gesetzgeber hat deshalb zur Vermeidung einer
Doppelbegünstigung solche Veräußerungsgewinne aus der ermäßigten Besteuerung
des § 34 EStG herausgenommen (BTDrucks 14/2683, S. 116).
26
Hingegen hat der Gesetzgeber die Einführung des Halbeinkünfteverfahrens
nicht zum Anlass genommen, die nach diesen Vorschriften zu ermittelnden
Veräußerungsgewinne aus dem Anwendungsbereich des § 16 Abs. 4 EStG
auszunehmen. Die Anwendung des Grundsatzes der Meistbegünstigung und damit
die vorrangige Verrechnung dieses Freibetrags mit nicht tarifbegünstigten
Veräußerungsgewinnen bewirkt entgegen der Auffassung des FA auch nicht,
solche Gewinne zusätzlich zu begünstigen. Vielmehr führt der Grundsatz der
Meistbegünstigung lediglich dazu, dem Steuerpflichtigen, soweit wie möglich,
die ihm gesetzlich zustehende Tarifermäßigung für seine in vollem Umfang der
Besteuerung unterliegenden Veräußerungsgewinne zu erhalten. Demgegenüber
würde eine anteilige Verrechnung dieses Freibetrags mit tarifbegünstigten
und mit nicht tarifbegünstigten Einkünften dazu führen, dass der
Steuerpflichtige allein deshalb, weil er auch einen nicht tarifbegünstigten
Veräußerungsgewinn erzielt, die Tarifermäßigung des § 34 EStG nicht in
vollem Umfang im gesetzlichen Rahmen in Anspruch nehmen könnte.
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d) Die Voraussetzungen des § 34 Abs. 3 EStG liegen - wie vom FG zutreffend
angenommen - in Höhe des in vollem Umfang steuerpflichtigen
Veräußerungsgewinns von 63.904,61 EUR vor. Wie oben dargelegt, hat der
Kläger das 55. Lebensjahr vollendet und einen Antrag auf Berücksichtigung
dieser Tarifermäßigung gestellt. Zwar hat er sie in seiner Steuererklärung
nicht ausdrücklich beantragt. Aus seinem Begehren, den vorstehend genannten
Gewinn in vollem Umfang gemäß § 34 Abs. 3 EStG zu besteuern, folgt jedoch,
dass er diesen Antrag konkludent gestellt hat. Auch steht nicht im Streit,
dass er diese Ermäßigung i.S. des § 34 Abs. 3 Satz 4 EStG bisher noch nicht
in Anspruch genommen hat.
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