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BFH-Urteil vom 31.8.2006 (III R 71/05) BStBl. 2010 II S. 1054
Für
die Prüfung, ob ein volljähriges blindes Kind i.S. des § 32 Abs. 4 Satz 1
Nr. 3 EStG außerstande ist, sich selbst zu unterhalten, ist bei dem
Vergleich seiner Einkünfte und Bezüge mit seinem existentiellen Lebensbedarf
(Grundbedarf und behinderungsbedingter Mehrbedarf) das Blindengeld zwar den
zur Bestreitung des Lebensunterhalts geeigneten Bezügen zuzuordnen. Jedoch
ist es bei der Ermittlung des behinderungsbedingten Mehrbedarfs anstelle des
Pauschbetrages für behinderte Menschen nach § 33b Abs. 3 Satz 3 EStG
anzusetzen, wenn es der Höhe nach den Pauschbetrag übersteigt. Es ist zu
vermuten, dass in Höhe des tatsächlich ausbezahlten Blindengeldes ein
behinderungsbedingter Mehraufwand besteht.
EStG § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3, § 33b Abs. 3
Satz 3.
Vorinstanz: Thüringer FG vom 28. September
2005 III 499/04 (EFG 2006, 275)
Sachverhalt
I.
Die Klägerin und
Revisionsklägerin (Klägerin) ist die Mutter ihres am 5. September 1972
geborenen Sohnes C, der seit einer Operation im Jahr 1978 erblindet ist. Der
Grad seiner Behinderung beträgt 100 %.
Die Klägerin beantragte im
Dezember 2003 erstmals Kindergeld für C rückwirkend ab dem Jahr 1999. Die
Beklagte und Revisionsbeklagte (Familienkasse) lehnte mit Bescheid vom
10. Februar 2004 den Antrag ab mit der Begründung, C habe hinreichende
Einnahmen, um sich selbst zu unterhalten.
Den Lebensbedarf des C
ermittelte die Familienkasse in Höhe des jeweiligen Jahresgrenzbetrages nach
§ 32 Abs. 4 Satz 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) als Grundbedarf und in
Höhe des Pauschbetrages für behinderte Menschen (Behinderten-Pauschbetrag)
nach § 33b EStG als behinderungsbedingten Mehrbedarf:
Als Bezüge setzte die
Familienkasse das Wohngeld, die Erwerbsunfähigkeitsrente und das Blindengeld
an, abzüglich des Werbungskostenpauschbetrages von 200 DM bzw. 102 € (§ 9a
EStG) und einer Kostenpauschale von 360 DM bzw. 180 €:
Der Einspruch, mit dem die
Klägerin geltend machte, das Blindengeld dürfe bei den Einkünften und
Bezügen des Kindes nicht berücksichtigt werden, blieb ohne Erfolg.
Das Finanzgericht (FG) wies
die Klage als unbegründet ab. Sein Urteil ist in Entscheidungen der
Finanzgerichte (EFG) 2006, 275 veröffentlicht.
Das FG führte im
Wesentlichen aus, C sei nicht außerstande gewesen, sich selbst zu
unterhalten. Der gesamte existenzielle Lebensbedarf eines behinderten Kindes
setze sich typischerweise aus dem allgemeinen Lebensbedarf und dem
individuellen behinderungsbedingten Mehrbedarf zusammen. Der Grundbedarf
orientiere sich an dem jeweils maßgeblichen Jahresgrenzbetrag nach § 32
Abs. 4 Satz 2 EStG (Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 14. Oktober 2002
VIII R 60/01, BFH/NV 2003, 310). Hinzu komme ein individueller
behinderungsbedingter Mehraufwand, den gesunde Kinder nicht hätten
(BFH-Urteil vom 15. Oktober 1999 VI R 183/97, BFHE 189, 442, BStBl II 2000,
72). Da die Klägerin trotz Rückfrage in der mündlichen Verhandlung keinen
über den gesetzlichen Pauschbetrag hinausgehenden behinderungsbedingten
Mehrbedarf für C geltend gemacht habe, sei lediglich der maßgebliche
Behinderten-Pauschbetrag für Blinde gemäß § 33b Abs. 3 Satz 3 EStG
anzusetzen.
Es sei nicht zulässig, einen
höheren Betrag, insbesondere das gezahlte Blindengeld als Mehrbedarf zu
berücksichtigen. Zwar erhielten Blinde nach § 1 des Thüringer Gesetzes über
das Blindengeld (ThürBliGG i.d.F. der Bekanntmachung vom 24. Juni 2003, GVBl
2003, 367) dieses "zum Ausgleich der durch die Blindheit bedingten
Mehraufwendungen". Dies spreche dafür, einen behinderungsbedingten
Mehrbedarf in Höhe des gezahlten Blindengeldes zu vermuten. Damit würden
sich das Blindengeld und ein entsprechender Mehraufwand der Höhe nach
ausgleichen. Dabei bleibe aber außer Betracht, dass sich die Höhe des
Blindengeldes, wie die großen Unterschiede zwischen den Landesblindengeldern
in einzelnen Bundesländern belegten, weniger am Aufwand des Blinden
orientiere, als vielmehr an der Haushaltslage des jeweiligen Bundeslandes.
Das Blindengeld habe zwischen 585 € in Hamburg (ab 2005: 448 €) und 266 € in
Brandenburg betragen. Es sei nicht nachvollziehbar, dass ein Blinder in
einem Bundesland mit hohem Blindengeld günstiger gestellt werde als ein
Blinder in einem Bundesland mit niedrigerem Blindengeld, wenn die
Aufwendungen beider Blinder gleich seien.
Bei der Berechnung der
eigenen Bezüge des Kindes seien dagegen nicht nur die Rentenzahlungen und
das Wohngeld, sondern auch das tatsächlich ausbezahlte Blindengeld
einzubeziehen, da es sich um finanzielle Mittel handle, die zum Bestreiten
des erhöhten Lebensbedarfs eingesetzt werden könnten und eingesetzt werden
sollten.
Mit der Revision rügt die
Klägerin die Verletzung materiellen Rechts. Nach § 1 ThürBliGG erhielten
Blinde das Blindengeld als "Ausgleich der durch die Blindheit bedingten
Mehraufwendungen". Der Gesetzgeber gehe also davon aus, dass dem blinden
Menschen im Verhältnis zum "normalen" Behinderten ein Mehraufwand entstehe.
Diesen setze er mindestens in Höhe des gezahlten Blindengeldes an.
Konsequenterweise müsse entweder der entsprechende Betrag dem Pauschbetrag
auf der Bedarfsseite hinzugerechnet werden oder aber bei der Ermittlung der
Einkünfte unberücksichtigt bleiben, was sich im Ergebnis neutralisiere. Da
das FG weder den einen noch den anderen Weg beschritten habe, habe es § 32
Abs. 4 Nr. 3 EStG unzutreffend angewandt.
Die Klägerin beantragt, das
Urteil des FG und den Bescheid der Familienkasse vom 10. Februar 2004 in der
Fassung der Einspruchsentscheidung aufzuheben und die Familienkasse zu
verpflichten, ihr Kindergeld ab dem Jahr 1999 bis einschließlich Februar
2004 zu gewähren.
Die Familienkasse beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision ist begründet. Sie führt zur
Aufhebung des FG-Urteils und zur Stattgabe der Klage (§ 126 Abs. 3 Nr. 1 der
Finanzgerichtsordnung - FGO -).
Entgegen der Auffassung des FG ist C
außerstande sich selbst zu unterhalten; er ist deshalb bei der Klägerin als
Kind zu berücksichtigen.
1. Gemäß § 62 Abs. 1, § 63 Abs. 1 Sätze 1
und 2 i.V.m. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG besteht für ein Kind, welches das
18. Lebensjahr vollendet hat, ein Anspruch auf Kindergeld, wenn es wegen
körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außerstande ist, sich
selbst zu unterhalten.
2. Nach der Rechtsprechung des BFH ist ein
behindertes Kind dann imstande, sich selbst zu unterhalten, wenn es mit den
ihm zur Verfügung stehenden finanziellen Mitteln seinen gesamten notwendigen
Lebensbedarf bestreiten kann. Der existentielle Lebensbedarf des behinderten
Kindes setzt sich typischerweise aus dem allgemeinen Lebensbedarf
(Grundbedarf) und dem individuellen behinderungsbedingten Mehrbedarf
zusammen. Hinsichtlich des Grundbedarfs gilt der Jahresgrenzbetrag des § 32
Abs. 4 Satz 2 EStG als Maßstab. Der behinderungsbedingte Mehrbedarf umfasst
Aufwendungen, die gesunde Kinder nicht haben. Dazu gehören alle mit einer
Behinderung zusammenhängenden außergewöhnlichen Belastungen, z.B. Wäsche,
Hilfeleistungen, Erholung und typische Erschwernisaufwendungen. Werden die
behinderungsbedingten Mehraufwendungen nicht im Einzelnen nachgewiesen, so
kann der maßgebliche Behinderten-Pauschbetrag nach § 33b Abs. 1 bis 3 EStG
als Anhalt für den Mehrbedarf dienen (BFH-Urteil in BFHE 189, 442, BStBl II
2000, 72).
Erhält ein behindertes Kind Pflegegeld aus
der Pflegeversicherung, darf der Behinderten-Pauschbetrag nach § 33b Abs. 1
bis 3 EStG aus systematischen Gründen nicht zusätzlich zu dem Pflegegeld als
behinderungsbedingter Mehrbedarf angesetzt werden (BFH-Urteil vom 24. August
2004 VIII R 50/03, BFHE 207, 250, BFH/NV 2004, 1719). Denn dieser
Pauschbetrag dient dazu, aus Gründen der Verwaltungsvereinfachung sämtliche
laufenden Aufwendungen, die typischerweise mit der Behinderung
zusammenhängen, abzugelten. Daher ist es bei der Veranlagung zur
Einkommensteuer nicht zulässig, den Pauschbetrag in Anspruch zu nehmen und
zusätzlich einen Teil der Aufwendungen, die mit dem Pauschbetrag abgegolten
sind, einzeln nachzuweisen (Senatsurteil vom 4. November 2004 III R 38/02,
BFHE 208, 155, BStBl II 2005, 271, m.w.N.). Bei der Ermittlung des
behinderungsbedingten Mehrbedarfs ist dies ebenso zu beurteilen, so dass
Aufwendungen, die bereits von dem Pauschbetrag erfasst werden, nicht
nochmals als Bedarf anzusetzen sind. Jedoch ist bei der Ermittlung des
behinderungsbedingten Mehrbedarfs zu vermuten, dass bei häuslicher Pflege
des behinderten Kindes mindestens ein Mehrbedarf in Höhe des gezahlten
Pflegegeldes entsteht (BFH-Urteil in BFHE 207, 250, BFH/NV 2004, 1719).
Die Grundsätze der Rechtsprechung zur
Ermittlung des behinderungsbedingten Mehrbedarfs bei Zahlung von Pflegegeld
gelten ebenso bei der Zahlung von Blindengeld. Daher ist auch beim
Blindengeld zu vermuten, dass ein behinderungsbedingter Mehrbedarf in Höhe
des tatsächlich gezahlten Blindengeldes besteht (gl.A. Schmidt/Glanegger,
EStG, 25. Aufl., § 32 Rz. 52). Das bedeutet, dass das Blindengeld zwar bei
den Bezügen zu erfassen ist, weil es sich - wie das FG unter Hinweis auf das
BFH-Urteil vom 19. August 2002 VIII R 17/02 (BFHE 200, 219, BStBl II 2003,
88, unter II. 2.) zutreffend angenommen hat - um finanzielle Mittel des
Kindes zur Bestreitung seines Lebensunterhalts handelt. Ist das Blindengeld
höher als der Behinderten-Pauschbetrag ist es jedoch anstelle des
Behinderten-Pauschbetrages als behinderungsbedingter Mehrbedarf anzusetzen.
Der Vermutung des tatsächlichen
behinderungsbedingten Mehrbedarfs in Höhe des Blindengeldes steht nicht
entgegen, dass in den einzelnen Bundesländern Blindengeld in
unterschiedlicher Höhe gezahlt wird. Denn die unterschiedliche Höhe des
Blindengeldes lässt sich nicht nur mit der Haushaltslage der einzelnen
Bundesländer erklären, sondern auch mit den unterschiedlichen
Lebenshaltungskosten. Daher ist die Annahme des FG, alle Blinden hätten in
allen Bundesländern einen gleich hohen behinderungsbedingten Bedarf,
unzutreffend. Es ist gerichtsbekannt, dass die Lebenshaltungskosten z.B. in
den vom FG genannten Ländern Hamburg und Brandenburg wesentlich voneinander
abweichen.
Entgegen der Auffassung des FG führt die
Vermutung, dass das jeweilige Blindengeld dem tatsächlichen Mehrbedarf
entspricht, nicht zu einer Ungleichbehandlung von Blindengeldempfängern
hinsichtlich des Kindergeldes. Denn bei den Empfängern von niedrigerem
Blindengeld wäre einerseits auch nur ein entsprechend geringerer Bezug i.S.
von § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG zu erfassen. Andererseits wäre als Mindestbetrag
bei dem behinderungsbedingten Mehrbedarf stets der Behinderten-Pauschbetrag
nach § 33b Abs. 3 Satz 3 EStG zu berücksichtigen, wenn das ausbezahlte
Blindengeld tatsächlich unter diesem Betrag läge. Anderenfalls bliebe vom
Gesetzgeber pauschal angenommener behinderungsbedingter Mehraufwand zu
Unrecht außer Betracht.
3. Da das FG von anderen Grundsätzen
ausgegangen ist, war die Vorentscheidung aufzuheben. Die Sache ist
spruchreif. Abweichend von der Berechnung des FG ist als
behinderungsbedingter Mehraufwand anstelle des Behinderten-Pauschbetrages
nach § 33b Abs. 3 Satz 3 EStG jeweils das höhere Blindengeld bei der
Ermittlung des behinderungsbedingten Mehrbedarfs anzusetzen, so dass sich
folgender Gesamtbedarf ergibt, der jeweils über den von Familienkasse und FG
zutreffend ermittelten Bezügen des C liegt:
Die Familienkasse war daher zu
verpflichten, der Klägerin Kindergeld für C wie beantragt für den Zeitraum
Januar 1999 bis einschließlich Februar 2004 zu gewähren.
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