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BFH-Urteil vom 19.11.2008 (III R 105/07) BStBl. 2010 II S. 1057
1.
Eine Mitursächlichkeit der Behinderung des Kindes für seine mangelnde
Fähigkeit zum Selbstunterhalt genügt für den Kindergeldanspruch nach § 32
Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG. Aus dem Wortlaut der Vorschrift ergibt sich aber,
dass die Mitursächlichkeit erheblich sein muss.
2.
Die Entscheidung, ob eine erhebliche Mitursächlichkeit vorliegt, hat das FG
im Rahmen einer Gesamtwürdigung aller Umstände des Einzelfalles zu treffen,
die vom BFH nur eingeschränkt überprüfbar ist.
EStG § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3; FGO § 118
Abs. 2; SGB II § 7 Abs. 1, § 8 Abs. 1.
Vorinstanz: FG Düsseldorf vom 15. November
2007 14 K 1342/06 Kg
Sachverhalt
I.
Die 1982 geborene behinderte
Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) begehrt die Festsetzung von
Kindergeld zugunsten ihrer Mutter, die der Senat im Revisionsverfahren gemäß
§ 60 Abs. 3 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zum Verfahren beigeladen hat.
Die Klägerin ist behindert
(Grad der Behinderung - GdB - 60, Merkmal RF). Nach Beendigung der
Sonderschule besuchte sie 1999/2000 die Vorklasse (Textil/Hauswirtschaft)
und 2000/2001 einen Qualifikationslehrgang (Praktikum Floristin) am Kolleg
für Hörgeschädigte, um arbeitsmarktorientierte Grundfertigkeiten zu
erlangen. Ab März 2002 war die Klägerin mit dem Berufswunsch
Floristenhelferin/Verkäuferin im Lagerbereich arbeitslos gemeldet. Im Jahr
2004 nahm sie an einer Berufsvorbereitungsmaßnahme für Behinderte, zunächst
in der Grundstufe und ab 2005 in der Förderstufe teil. Nach Beendigung des
Lehrganges meldete sich die Klägerin erneut arbeitslos und erhielt
Arbeitslosengeld II. Seit August 2005 wird die Klägerin bei der
Berufsberatung nicht mehr als Bewerberin für eine berufliche
Ausbildungsstelle geführt.
Das Kindergeld für die
Klägerin wurde zugunsten der Beigeladenen festgesetzt und im Wege der
Abzweigung bis einschließlich August 2005 unmittelbar an die Klägerin
gezahlt, weil die Beigeladene keinen Unterhalt an die Klägerin leistete.
Am 19. Juli/14. August 2005
beantragte die Beigeladene erneut Kindergeld unter gleichzeitiger Abtretung
an die Klägerin. Die Klägerin stellte am 18. August 2005 einen Antrag auf
Auszahlung des Kindergeldes und teilte mit, sie sei Hartz IV-Empfängerin.
Sie bitte um einen begründeten Ablehnungsbescheid und werde in jedem Falle
mit Hilfe des Sozialamtes Einspruch einlegen.
Die Beklagte und
Revisionsklägerin (die Familienkasse) lehnte den Antrag der Beigeladenen auf
Kindergeld mit Bescheid vom 2. Februar 2006 ab. Die Familienkasse führte zur
Begründung aus, die Klägerin sei weder als ausbildungsplatzsuchend gemeldet
noch könne sie als behindertes Kind berücksichtigt werden, weil die
Behinderung nicht ursächlich dafür sei, dass die Klägerin ihren
Lebensunterhalt nicht selbst bestreiten könne. Einen Abdruck der
Entscheidung übersandte die Familienkasse mit Schreiben vom 2. Februar 2006
an die Klägerin.
Die Klägerin legte am
13. Februar 2006 Einspruch ein und machte geltend: Nach einem
psychologischen Test des Arbeitsamtes sei ihr mitgeteilt worden, ihr
schulisches Grundwissen reiche nicht aus, um eine Ausbildung absolvieren zu
können. Nach dem Test sei sie aufgrund einer Maßnahme des Arbeitsamtes in
einer Werkstätte untergebracht worden und habe von Hartz IV gelebt.
Die Familienkasse wies mit
Einspruchsentscheidung vom 27. Februar 2006 den Einspruch der Klägerin als
unbegründet zurück: Es lasse sich nicht feststellen, dass die Klägerin
aufgrund ihrer Behinderung nicht in der Lage sei, selbst für ihren
Lebensunterhalt zu sorgen. Sie habe sich mit einem mindestens dreistündigen
täglichen Leistungsvermögen dem allgemeinen Arbeitsmarkt bei der
Arbeitsagentur zur Verfügung gestellt und beziehe laufend Geldleistungen
nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Es lägen eher
"arbeitsmarktliche" Gründe vor, die aufgrund der Schwerhörigkeit die
Ausübung einer Beschäftigung verhinderten. Die Aufnahme eines
Ausbildungsverhältnisses scheitere an mangelndem schulischem Grundwissen.
Das Finanzgericht (FG) sah
die Klage als zulässig an. Es verpflichtete die Familienkasse unter Änderung
des Bescheides vom 2. Februar 2006 in der Fassung der Einspruchsentscheidung
vom 27. Februar 2006, zugunsten der Beigeladenen ab September 2005
Kindergeld für die Klägerin festzusetzen.
Es führte aus: Die
Behinderung der Klägerin sei ursächlich für ihre Unfähigkeit, sich selbst zu
unterhalten. Nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 des für den streitigen Zeitraum
geltenden Einkommensteuergesetzes (EStG) 2002 müsse die Behinderung nicht
alleinige Ursache dafür sein, dass das Kind nicht selbst für seinen
Unterhalt sorgen könne. Eine Mitursächlichkeit reiche aus. Im Streitfall sei
nach den Gesamtumständen die Behinderung der Klägerin in erheblichem Umfang
mitursächlich für die fehlende Möglichkeit zum Selbstunterhalt. Zwar sei die
Klägerin arbeitslos gemeldet gewesen und habe Arbeitslosengeld II bezogen.
Bis heute habe ihr jedoch keine Arbeitsstelle auf dem allgemeinen
Arbeitsmarkt vermittelt werden können. Auch nach dem Gutachten der vom
Gericht beauftragten Sachverständigen vom 4. Mai 2007 und den Feststellungen
des Gutachters des Arbeitsamtes vom 8. Januar 2004 könne nicht angenommen
werden, dass die Erwerbslosigkeit nur auf den Bedingungen des allgemeinen
Arbeitsmarktes beruhe. Zwar habe die Sachverständige ebenso wie der
Gutachter des Arbeitsamtes festgestellt, dass die Klägerin trotz einer
Einschränkung ihrer beruflichen Leistungsfähigkeit in der Lage sei, eine
geistig einfache angelernte Tätigkeit "vollschichtig" auszuüben. Die
Leistungseinschränkungen aufgrund ihrer Lernbehinderung wegen einer
frühkindlichen Hirnschädigung und ihrer Schwerhörigkeit führten aber zu
einer erheblichen Einschränkung ihrer Vermittlungschancen auf dem
allgemeinen Arbeitsmarkt.
Mit ihrer Revision rügt die
Familienkasse die Verletzung des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG 2002.
Entgegen der Rechtsauffassung des FG reiche für die Feststellung, dass sich
das Kind nicht selbst unterhalten könne, eine Mitursächlichkeit nicht aus.
Andernfalls wäre eine Behinderung praktisch immer als (mit-)kausal für die
Unfähigkeit zum Selbstunterhalt anzusehen. Nach dem Gesetzeswortlaut müsse
das Kind "wegen" der Behinderung außerstande sein, sich selbst zu
unterhalten. Hieraus folge, dass die Behinderung die alleinige Ursache sein
müsse. Da dies in der Praxis selten feststellbar sein dürfte, müsse die
Behinderung zumindest ganz überwiegend für die Unfähigkeit zum
Selbstunterhalt verantwortlich sein. Auf keinen Fall dürfe jedoch, wie das
FG annehme, jede irgendwie geartete Mitursächlichkeit, also auch ein
beliebig kleiner Ursachenbeitrag, als ausreichend für die Feststellung der
Kausalität angesehen werden.
Die Familienkasse beantragt,
das Urteil der Vorinstanz aufzuheben und die Sache zur anderweitigen
Verhandlung und Entscheidung zurückzuweisen.
Die Klägerin beantragt, die
Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision ist unbegründet und daher
zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 FGO).
1. Das FG hat zutreffend entschieden, dass
gegenüber der Beigeladenen Kindergeld für die Klägerin ab September 2005
festzusetzen ist.
Gemäß den §§ 62 Abs. 1, 63 Abs. 1 Satz 2
i.V.m. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG 2002 besteht für ein Kind, das das
18. Lebensjahr vollendet hat, Anspruch auf Kindergeld, wenn es wegen
körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außerstande ist, sich
selbst zu unterhalten und die Behinderung vor dem 27. Lebensjahr eingetreten
ist.
a) Das Tatbestandsmerkmal "außerstande ist,
sich selbst zu unterhalten" ist im Gesetz nicht näher umschrieben. Nach
ständiger Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) ist ein behindertes Kind
dann außerstande, sich selbst zu unterhalten, wenn es seinen Lebensunterhalt
nicht selbst bestreiten kann. Ein Kind ist dann imstande, sich selbst zu
unterhalten, wenn es über eine wirtschaftliche Leistungsfähigkeit verfügt,
die zur Bestreitung seines gesamten notwendigen Lebensunterhalts ausreicht
(BFH-Urteile vom 15. Oktober 1999 VI R 183/97, BFHE 189, 442, BStBl II 2000,
72, und VI R 40/98, BFHE 189, 449, BStBl II 2000, 75). Der gesamte
existenzielle Lebensbedarf des behinderten Kindes setzt sich dabei
typischerweise aus dem allgemeinen Lebensbedarf (Grundbedarf) und dem
individuellen behinderungsbedingten Mehrbedarf zusammen. Für den
Streitzeitraum beginnend ab September 2005 ist der Grundbedarf mit 7.680 €
zu bemessen (vgl. BFH-Urteil in BFHE 189, 442, BStBl II 2000, 72). Hinzu
kommt ein individueller behinderungsbedingter Mehraufwand, den gesunde
Kinder nicht haben. Erbringt der Steuerpflichtige keinen Einzelnachweis,
kann der jeweils maßgebliche Behinderten-Pauschbetrag (§ 33b Abs. 1 bis 3
EStG 2002) als Anhalt für den betreffenden Mehrbedarf dienen (z.B.
BFH-Urteile vom 19. August 2002 VIII R 17/02, BFHE 200, 219, BStBl II 2003,
88, und VIII R 51/01, BFHE 200, 212, BStBl II 2003, 91).
b) Ein behindertes Kind kann sowohl wegen
der Behinderung als auch wegen der allgemeinen ungünstigen Situation auf dem
Arbeitsmarkt oder wegen anderer Umstände (z.B. mangelnder Mitwirkung bei der
Arbeitsvermittlung, Ablehnung von Stellenangeboten) arbeitslos und damit
außerstande sein, sich selbst zu unterhalten. Entsprechend dem eindeutigen
Wortlaut des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG 2002 führt eine Behinderung aber
nur dann zu einer Berücksichtigung beim Kindergeld, wenn das Kind nach den
Gesamtumständen des Einzelfalles wegen der Behinderung außerstande ist, sich
selbst zu unterhalten (Ursächlichkeit); dem Kind muss es daher objektiv
unmöglich sein, seinen (gesamten) Lebensunterhalt durch eigene
Erwerbstätigkeit zu bestreiten (vgl. BFH-Urteil in BFHE 189, 449, BStBl II
2000, 75). Ist folglich ein Kind trotz seiner (ggf. erheblichen) Behinderung
etwa aufgrund hoher Einkünfte oder Bezüge in der Lage, selbst für seinen
Lebensunterhalt zu sorgen, kommt der Behinderung keine Bedeutung zu.
Entgegen der Auffassung der Familienkasse
ist insoweit keine abstrakte Betrachtungsweise zulässig; vielmehr fordert
der Gesetzgeber eine konkrete Bewertung der jeweiligen Situation des
behinderten Kindes nach den Gesamtumständen des Einzelfalles (BFH-Beschluss
vom 14. Dezember 2001 VI B 178/01, BFHE 197, 472, BStBl II 2002, 486; R 32.9
Abs. 2 Satz 1 der Einkommensteuer-Richtlinien - EStR - 2005).
Nach ständiger Rechtsprechung des BFH kann
die Ursächlichkeit der Behinderung entsprechend den Verwaltungsanweisungen
grundsätzlich angenommen werden, wenn im Schwerbehindertenausweis das
Merkmal "H" (hilflos) eingetragen ist oder der GdB 50 oder mehr beträgt und
besondere Umstände hinzutreten, aufgrund derer eine Erwerbstätigkeit unter
den üblichen Bedingungen des Arbeitsmarktes ausgeschlossen erscheint
(BFH-Urteil vom 26. Juli 2001 VI R 56/98, BFHE 196, 161, BStBl II 2001, 832;
BFH-Beschluss in BFHE 197, 472, BStBl II 2002, 486; H 32.9 erster Anstrich
EStR 2005, Dienstanweisung zur Durchführung des Familienleistungsausgleichs
nach dem X. Abschnitt des Einkommensteuergesetzes - DA-FamEStG - 63.3.6.3.1
Abs. 2 Satz 1, BStBl I 2004, 743, 771). Es handelt sich bei diesen
Regelungen um eine im Interesse der Rechtsanwendungsgleichheit vorgenommene
Konkretisierung des Grundsatzes, dass die Frage, ob die Behinderung
ursächlich für das Außerstandesein des Kindes zum Selbstunterhalt ist, nach
den Gesamtumständen des Einzelfalles zu beurteilen ist (BFH-Urteil vom
26. August 2003 VIII R 58/99, BFH/NV 2004, 326).
Der Senat folgt den Verwaltungsanweisungen
auch insoweit, als die Behinderung für die Unfähigkeit des Kindes zur
Ausübung einer Erwerbstätigkeit grundsätzlich nicht ursächlich ist, wenn der
GdB weniger als 50 beträgt und keine besonderen Umstände dafür ersichtlich
sind, dass auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt keine Erwerbstätigkeit ausgeübt
werden kann (s. DA-FamEStG 63.3.6.3.1 Abs. 1 Satz 1). Die in den
Verwaltungsanweisungen enthaltenen (pauschalen) Vermutungen des
Kausalzusammenhangs sind in beiden Fallgruppen im Einzelfall widerlegbar.
c) Das FG hat zutreffend entschieden, dass
nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG 2002 die Behinderung nicht die alleinige
Ursache dafür sein muss, dass das Kind außerstande ist, sich selbst zu
unterhalten (ebenso Sächsisches FG, Urteile vom 26. Juni 2006
1 K 1565/04 (Kg), Entscheidungen der Finanzgerichte - EFG - 2007, 50, und
vom 17. August 2004 3 K 2367/03 (Kg), EFG 2005, 391; FG Düsseldorf,
Urteil vom 8. Februar 2007 14 K 5102/05 Kg, EFG 2007, 1339 - nur Leitsatz
-). Würde man eine ausschließliche Ursächlichkeit der Behinderung für die
fehlende eigene Fähigkeit des Kindes zur Unterhaltssicherung verlangen, so
würde man die Kindergeldberechtigung arbeitsloser behinderter Kinder
insbesondere in Zeiten erhöhter Arbeitslosigkeit leerlaufen lassen; denn in
der Regel ist die Arbeitsmarktsituation zumindest mitursächlich für den
unzureichenden beruflichen Erfolg des behinderten Kindes (Sächsisches FG,
Urteil in EFG 2005, 391). Andererseits ergibt sich aus dem Wortlaut des § 32
Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG 2002, dass nicht jede einfache Mitursächlichkeit
ausreicht; vielmehr folgt aus dem Tatbestandsmerkmal " ... wegen ...
Behinderung außerstande ist", dass die Mitursächlichkeit der Behinderung
erheblich sein muss.
Der fehlende Nachweis der Behinderung und
der Unfähigkeit zum Selbstunterhalt geht im Übrigen nach den Regeln der
objektiven Beweislast (Feststellungslast) zu Lasten des
Kindergeldberechtigten.
2. Die Entscheidung, ob eine Behinderung
für die mangelnde Fähigkeit des behinderten Kindes zum Selbstunterhalt in
erheblichem Umfang mitursächlich ist, hat das FG unter Berücksichtigung
aller Umstände des Einzelfalles zu entscheiden. Vom BFH ist die Entscheidung
des FG nur eingeschränkt überprüfbar. Ist die tatsächliche Würdigung des FG
verfahrensrechtlich einwandfrei zustande gekommen und verstößt sie auch
nicht gegen Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze, ist sie für den BFH
als Revisionsgericht nach § 118 Abs. 2 FGO bindend, selbst wenn die Wertung
des FG nicht zwingend, sondern lediglich möglich ist (z.B. BFH-Beschluss vom
10. Februar 2005 VI B 113/04, BFHE 209, 211, BStBl II 2005, 488).
a) Ein Indiz für die Fähigkeit des
behinderten Kindes zum Selbstunterhalt kann zwar die Feststellung in
ärztlichen Gutachten - z.B. von der Reha-SB-Stelle der Agentur für Arbeit
oder eines vom Gericht beauftragten ärztlichen Sachverständigen - sein, das
Kind sei nach Art und Umfang seiner Behinderung in der Lage, eine
arbeitslosenversicherungspflichtige, mindestens 15 Stunden wöchentlich
umfassende Beschäftigung unter den üblichen Bedingungen des für ihn in
Betracht kommenden Arbeitsmarktes auszuüben (s. DA-FamEStG 63.3.6.3.1
Abs. 4). Selbst wenn nach den Gutachten eine "vollschichtige Tätigkeit" für
möglich gehalten wird, ist die theoretische Möglichkeit, das behinderte Kind
am allgemeinen Arbeitsmarkt zu vermitteln, aber allein nicht geeignet, die
(Mit-)Ursächlichkeit der Behinderung auszuschließen. Entscheidend kann nur
die konkrete Bewertung der jeweiligen Situation des behinderten Kindes sein.
b) Auch der Bezug von Arbeitslosengeld II
kann allenfalls ein Indiz für die Fähigkeit des Kindes zum Selbstunterhalt
sein. Der Bezug von Arbeitslosengeld II setzt u.a. voraus, dass der
Arbeitslose nach § 7 Abs. 1 Nr. 2 SGB II erwerbsfähig ist, d.h. unter den
üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden
täglich erwerbstätig sein kann (vgl. § 8 Abs. 1 SGB II). Jedoch muss sich
aus dem Gesamtbild durch Hinzutreten weiterer Umstände eine konkrete
Erwerbsfähigkeit des behinderten Kindes ergeben.
c) Dagegen kommt dem GdB eine wichtige
indizielle Bedeutung für die Prüfung der Ursächlichkeit der Behinderung für
die mangelnde Fähigkeit zum Selbstunterhalt zu (vgl. Sächsisches FG, Urteil
in EFG 2007, 50). Je höher der GdB ist, desto stärker wird die Vermutung,
dass die Behinderung der erhebliche Grund für die fehlende Erwerbstätigkeit
ist. Dieser Erkenntnis liegt die zutreffende Annahme zugrunde, dass eine
Beschäftigung schwerbehinderter Kinder unter den normalen Bedingungen des
Arbeitsmarktes regelmäßig nur unter erschwerten Bedingungen möglich ist
(BFH-Beschluss in BFHE 197, 472, BStBl II 2002, 486). Die Rechtsprechung hat
demgemäß bei einem GdB von 100 und dem Merkmal H in der Regel eine
Kausalität angenommen, auch wenn eine (Teil-)Erwerbstätigkeit theoretisch
möglich gewesen sein sollte (vgl. BFH-Urteile vom 28. Januar 2004
VIII R 10/03, BFH/NV 2004, 784, und in BFH/NV 2004, 326). Dagegen spricht
ein GdB unter 50 eher gegen eine Kausalität der Behinderung.
d) Eine - nicht behinderungsspezifische -
Berufsausbildung kann als Indiz für eine Vermittelbarkeit des behinderten
Kindes auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt sprechen (vgl. auch FG
Baden-Württemberg, Urteil vom 14. Oktober 2004 3 K 87/00, EFG 2005, 285).
Andererseits gilt auch hier, dass noch weitere Umstände hinzukommen müssen,
bis eine Teilnahme am Erwerbsleben als möglich angesehen werden kann.
Behinderungsspezifische Ausbildungen und Praktika - wie im Streitfall -
sprechen eher gegen eine Vermittelbarkeit am allgemeinen Arbeitsmarkt, da
sie möglicherweise den Schluss auf nur bedingte Einsatzmöglichkeiten am
Arbeitsmarkt zulassen.
e) Steht das behinderte Kind der
Arbeitsvermittlung der Agentur für Arbeit zur Verfügung und kann die Agentur
für Arbeit in einem mittelfristigen Zeitraum keine Stellenangebote benennen,
wird dies in der Regel gegen die Vermittelbarkeit des behinderten Kindes und
damit für eine Ursächlichkeit der Behinderung für die mangelnde Fähigkeit
zum Selbstunterhalt sprechen (vgl. Sächsisches FG, Urteil in EFG 2007, 50;
FG Düsseldorf, Urteil in EFG 2007, 1339). Gleiches gilt, wenn das behinderte
Kind sich mittelfristig mehrfach erfolglos beworben hat
(a.A. FG Baden-Württemberg, Urteil vom 12. Juli 2007 1 K 316/04,
Steuer-Eildienst 2008, 646 - nur Leitsatz -). Insbesondere erschwert ein
ungünstiger Arbeitsmarkt die Vermittelbarkeit des behinderten Kindes, da
Einsparungsmaßnahmen der Arbeitgeber am ehesten bei "einfachen" Tätigkeiten
vorgenommen werden und durch automatisierte Handlungsabläufe ersetzt werden.
3. Das FG ist im Ergebnis von diesen
Grundsätzen ausgegangen. Es hat eine erhebliche Mitursächlichkeit der
Behinderung im Streitfall als gegeben angesehen und nicht wie die
Familienkasse meint, jede irgendwie geartete Mitursächlichkeit ausreichen
lassen. Die Gesamtwürdigung des FG, die Behinderung der Klägerin sei
erheblich mitursächlich für ihre mangelnde Fähigkeit zum Selbstunterhalt,
ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden. Die Klägerin ist seit ihrer
Geburt behindert und hat ab 2001 einen GdB von 60. Die Klägerin bezieht
lediglich Arbeitslosengeld II und hatte nur zeitweise einen 1-Euro-Job. Ihr
konnte mittelfristig keine Arbeitsstelle von der Arbeitsvermittlung der
Agentur für Arbeit vermittelt werden. Die von der Klägerin absolvierten
berufsbildenden Maßnahmen für Hörgeschädigte belegen, dass sie sich ständig
intensiv um Fortbildung bemüht hat, um eine Ausbildungsstelle oder zumindest
eine Arbeitsstelle zu erhalten. Nach den Ausführungen des FG führten die
Leistungseinschränkungen der Klägerin aufgrund ihrer Lernbehinderung wegen
der frühkindlichen Hirnschädigung und ihrer Schwerhörigkeit trotz ihrer
abstrakten Arbeitsfähigkeit zu einer erheblichen Einschränkung der
Vermittlungschancen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. Diese Würdigung ist
jedenfalls vertretbar und daher nicht zu beanstanden.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 143
Abs. 1 i.V.m. § 135 Abs. 2 FGO.
Für eine Entscheidung über die
außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen i.S. von § 139 Abs. 4 FGO besteht
kein Anlass. Die Beigeladene ist im Revisionsverfahren nicht vertreten und
es ist auch nicht erkennbar, dass ihr besondere außergerichtliche Kosten
entstanden sind (vgl. BFH-Urteil vom 1. August 2001 II R 47/00, BFH/NV 2002,
788, m.w.N.).
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