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BFH-Urteil vom 30.7.2008 (V R 7/03) BStBl. 2010 II S. 1075
1.
Aus den im Steuerrecht allgemein geltenden Grundsätzen der
Verhältnismäßigkeit und des Vertrauensschutzes ergibt sich, dass die
Steuerfreiheit einer Ausfuhrlieferung nicht versagt werden darf, wenn der
liefernde Unternehmer die Fälschung des Ausfuhrnachweises, den der Abnehmer
ihm vorlegt, auch bei Beachtung der Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns
nicht hat erkennen können (Änderung der Rechtsprechung;
Nachfolgeentscheidung zum EuGH-Urteil vom 21. Februar 2008 Rs. C-271/06,
Netto Supermarkt GmbH & Co. KG, BFH/NV Beilage 2008, 199).
2.
Ob die Voraussetzungen hierfür gegeben sind, ist im Erlassverfahren zu
prüfen.
UStG 1993 § 4 Nr. 1, § 6 Abs. 1, § 6
Abs. 4, § 6a Abs. 4; AO § 227, § 163; Richtlinie 77/388/EWG Art. 15.
Vorinstanz: FG Mecklenburg-Vorpommern vom
1. Oktober 2002 2 K 375/00
Sachverhalt
I.
Die Beteiligten streiten um
den Erlass von Umsatzsteuer, die der Beklagte und Revisionsbeklagte (das
Finanzamt - FA -) gegen die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) wegen
des Fehlens der Voraussetzungen für steuerfreie Ausfuhrlieferungen
festgesetzt hat.
Die Klägerin betreibt
Discount-Supermärkte. In den Jahren 1992 bis 1998 erstattete sie folgende
Umsatzsteuerbeträge (gerundet) an ihre Kunden:
Betriebsintern hatte sie
festgelegt, dass sie die Umsatzsteuer im nichtkommerziellen Reiseverkehr nur
erstattet, wenn sich der Stempelaufdruck hälftig auf dem Bon und dem
Zollformular befindet und der ausländische Bürger seinen Pass vorlegt. Diese
Regelungen führte sie vor dem Erscheinen des Merkblatts des
Bundesministeriums der Finanzen (BMF) zur Umsatzsteuerbefreiung für
Ausfuhrlieferungen im nichtkommerziellen Reiseverkehr vom 18. März 1999
IV D 2 S -7133- 4/99 (BStBl I 1999, 289) ein, in dem Empfehlungen für den
Nachweis der Ausfuhr im nichtkommerziellen Reiseverkehr enthalten sind.
Die Leiterin der Buchhaltung
und der Verwaltungsleiter der Klägerin suchten am 12. August 1998 das
Hauptzollamt (HZA) auf, um festzustellen, ob der häufig auftretende
Zollstempel Nr. 73 und die dazu gehörenden Papiere der Zollbehörde gefälscht
waren. Nachdem die Gesprächspartnerin im HZA die Stempel für echt gehalten
hatte, informierte das HZA am 29. September 1998 den Verwaltungsleiter der
Klägerin, die von der Klägerin übergebenen Unterlagen seien nach nochmaliger
Prüfung als gefälscht erkannt worden. Die Angelegenheit wurde sodann der
Steuerfahndungsstelle übergeben. Diese ermittelte mit Hilfe sog.
Stempelfolien, dass ein erheblicher Teil der Ausfuhrnachweise in den Jahren
1993 bis 1998 von polnischen Staatsbürgern nachgefertigt bzw. die
Ausfuhrnachweise mit einem falschen Zollstempel versehen worden waren. Die
Steuerfahndungsstelle stellte fest, dass die polnischen Staatsbürger
Einkäufe und Ausfuhren vorspiegelten, indem sie liegen gebliebene Kassenbons
auf den Parkplätzen, in den Einkaufskörben und den Papierkörben der
Supermärkte einsammelten, zum Teil mit gefälschten Vordrucken und
gefälschten Zollstempeln Ausfuhrnachweise "fertigten", diese mit Namen und
Anschrift des jeweiligen polnischen Staatsbürgers versahen und die
Erstattung der Umsatzsteuer von der Klägerin beantragten und gewährt
bekamen.
Mit (geänderten)
Umsatzsteuerbescheiden vom 11. Oktober 1999 für die Jahre 1993 bis 1997 und
Vorauszahlungsbescheid vom 12. November 1999 für den Monat Dezember 1998
setzte das FA daraufhin Umsatzsteuer fest.
Den von der Klägerin
beantragten Erlass der nachgeforderten Umsatzsteuer für die Jahre 1993 bis
1998 lehnte das FA mit Bescheid vom 14. Februar 2000 ab. Der Einspruch
dagegen hatte zum Teil Erfolg. Das FA erließ die Umsatzsteuernachforderung
für die Jahre 1993 und 1994, weil für diese Jahre eine Betriebsprüfung
durchgeführt worden war und die Steuerbescheide nicht mehr hätten geändert
werden dürfen. Die Zinsen (1993 bis 1997) erließ das FA, weil der Klägerin
nur ein fiktiver Liquiditätsvorteil entstanden war.
Im Übrigen wies das FA den
Einspruch gegen die Umsatzsteuerbescheide 1995 bis 1998 zurück. Zur
Begründung führte es aus, die Einziehung sei nicht sachlich unbillig. Die
Klägerin schulde die Steuer, da sie keinen ordnungsgemäßen Ausfuhrnachweis
habe erbringen können. Die Durchsetzung des Anspruches aus dem
Steuerschuldverhältnis unter den besonderen Umständen des Einzelfalles laufe
den gesetzlichen Wertungen nicht zuwider.
Der Zeitraum von 1993 bis
1998, in dem die Klägerin nicht bemerkt habe, dass ein erheblicher Teil der
Ausfuhrpapiere von polnischen Staatsbürgern nachgefertigt und mit einem
falschen Zollstempel versehen worden sei, sei lang andauernd. Zudem sei die
Erstattung von Umsatzsteuer in Höhe von 223.390 DM an polnische Staatsbürger
ein erheblicher Schaden. Der Schaden sei nicht durch die falsche Auskunft
der Zollbehörden verursacht worden. Die Maßnahmen, die die Klägerin
ergriffen habe, hätten nicht ausgereicht. Bei angemessener Sorgfalt hätte
ein über Jahre andauernder Betrug verhindert werden können. Zwar seien die
Vorschriften des § 8 der Umsatzsteuer-Durchführungsverordnung (UStDV)
eingehalten worden, der Echtheit der abgestempelten Ausfuhrnachweise sei
jedoch zu wenig Bedeutung geschenkt worden. Erst nach Jahren sei den
aufgekommenen Zweifeln nachgegangen worden.
Die Klägerin müsse sich
zurechnen lassen, dass sie die ungerechtfertigte Auszahlung der
Umsatzsteuern mitverschuldet habe, auch wenn durch ihr Handeln weiterer
Schaden verhindert worden sei. Die Umsatzsteuer könne zurückgefordert
werden, auch wenn die Klägerin wesentlich zur Aufklärung des Sachverhaltes
beigetragen habe. Dieser Umstand müsse nur im Strafprozess positiv bedacht
werden, für einen Erlass der gesamten Umsatzsteuern reiche dies jedoch
nicht. Eine analoge Anwendung des § 6a Abs. 4 des Umsatzsteuergesetzes 1993
(UStG 1993) komme nicht in Betracht. Dort sei ebenfalls Voraussetzung, dass
der Unternehmer die Unrichtigkeit der Angaben des Abnehmers auch bei
Beachtung der Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns nicht habe erkennen
können. Davon abgesehen handele es sich um keine planwidrige Lücke im
Gesetz. Die Vertrauensschutzregelung in § 6a Abs. 4 UStG 1993 für die
innergemeinschaftliche Lieferung beruhe auf der Überlegung, dass die
Steuerforderungen im EU-Binnenmarkt leichter realisierbar seien als bei
Lieferungen in Drittstaaten, die dem § 6 UStG 1993 unterlägen.
Die auf den Erlass der
Umsatzsteuernachforderungen nach § 227 der Abgabenordnung (AO) für die Jahre
1995 bis 1998 gerichtete Klage blieb ohne Erfolg. Das Finanzgericht (FG)
vertrat die Auffassung, die Einziehung der Umsatzsteuer sei auch dann nicht
sachlich unbillig, wenn die Klägerin nicht gegen ihre Sorgfaltspflichten
verstoßen haben sollte. Auch in diesem Fall entspreche die Einziehung der
Steuer den Wertungen des Gesetzes.
Zur Begründung der Revision
trägt die Klägerin vor, das Urteil des FG verletze materielles Recht und
Verfahrensrecht. Das FG habe die Lieferungen an polnische Abnehmer in
analoger Anwendung des § 6a Abs. 4 UStG 1993 als steuerfrei behandeln
müssen.
Im Übrigen seien die
Voraussetzungen einer abweichenden Steuerfestsetzung aus Billigkeitsgründen
gegeben.
Der Senat hat das
Revisionsverfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof der Europäischen
Gemeinschaften (EuGH) die folgende Frage zur Auslegung des
Gemeinschaftsrechts vorgelegt:
"Stehen die
gemeinschaftsrechtlichen Regelungen über die Steuerbefreiung bei Ausfuhren
in ein Drittland einer Gewährung der Steuerbefreiung im Billigkeitswege
durch den Mitgliedstaat entgegen, wenn zwar die Voraussetzungen der
Befreiung nicht vorliegen, der Steuerpflichtige deren Fehlen aber auch bei
Beachtung der Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmannes nicht erkennen konnte?"
Der EuGH hat diese Frage in
seinem Urteil vom 21. Februar
2008 Rs. C-271/06, Netto Supermarkt GmbH & Co.
KG (BFH/NV Beilage 2008,
199) wie folgt beantwortet:
"Art. 15 Nr. 2 der ...
Richtlinie 77/388/EWG ... in der Fassung der Richtlinie 95/7/EG vom
10. April 1995 ist dahin auszulegen, dass er der von einem Mitgliedstaat
vorgenommenen Mehrwertsteuerbefreiung einer Ausfuhrlieferung nach einem Ort
außerhalb der Europäischen Gemeinschaft nicht entgegensteht, wenn zwar die
Voraussetzungen für eine derartige Befreiung nicht vorliegen, der
Steuerpflichtige dies aber auch bei Beachtung der Sorgfalt eines
ordentlichen Kaufmanns infolge der Fälschung des vom Abnehmer vorgelegten
Nachweises der Ausfuhr nicht erkennen konnte."
Die Klägerin beantragt
sinngemäß, das Urteil des FG sowie die Einspruchsentscheidung vom 3. Mai
2000 und den Ablehnungsbescheid vom 14. Februar 2000 aufzuheben und das FA
zu verpflichten, die Umsatzsteuer für 1995 um ... €, die Umsatzsteuer für
1996 um ... €, die Umsatzsteuer für 1997 um ... € und die Umsatzsteuer für
1998 um ... € herabzusetzen.
Das FA beantragt, die
Revision zurückzuweisen.
Das FA ist der Ansicht, die
Voraussetzungen eines Erlasses seien auch nach den Grundsätzen des
EuGH-Urteils Netto Supermarkt GmbH & Co. KG in BFH/NV Beilage 2008, 199
nicht erfüllt. Die Klägerin habe die Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns
nicht beachtet, weil von ihr nicht im ausreichenden Umfang geprüft worden
sei, ob der Inhaber der Zollpapiere auch der tatsächliche Abnehmer der Waren
gewesen sei.
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision ist begründet; sie führt zur
Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG
(§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung - FGO -). Das FG hat zu
Unrecht angenommen, dass die Klägerin auch dann keinen Anspruch auf den
begehrten Erlass habe, wenn ihr kein Verstoß gegen ihre Sorgfaltspflichten
zur Last fiele. Die Sache ist nicht spruchreif. Der Senat kann aufgrund der
vom FG getroffenen Feststellungen nicht entscheiden, ob die Klägerin alle
zumutbaren Maßnahmen ergriffen hat, um sicherzustellen, dass die von ihr
getätigten Umsätze nicht zu einer Beteiligung an einer Steuerhinterziehung
führen und die Einziehung der Umsatzsteuer deshalb unbillig ist.
1. Nach § 163 AO können Steuern niedriger
festgesetzt werden, wenn die Erhebung der Steuer nach Lage des einzelnen
Falles unbillig wäre. Unter denselben Voraussetzungen können Ansprüche aus
dem Steuerschuldverhältnis erlassen werden (§ 227 AO). Sachliche
Unbilligkeit liegt vor, wenn die Besteuerung, unabhängig von den
wirtschaftlichen Verhältnissen des Steuerpflichtigen, im Einzelfall mit dem
Sinn und Zweck des Gesetzes nicht vereinbar ist und deshalb den gesetzlichen
Wertungen zuwiderläuft (ständige Rechtsprechung, z.B. Urteile des
Bundesfinanzhofs - BFH - vom 9. September 1993 V R 45/91, BFHE 172, 237,
BStBl II 1994, 131, und vom 23. September 2004 V R 58/03, BFH/NV 2005, 825,
unter II. 1.).
2. Die Voraussetzungen einer
Steuerbefreiung nach § 4 Nr. 1 Buchst. a UStG 1993 sind vorliegend nicht
erfüllt. Danach sind von den unter § 1 Abs. 1 Nr. 1 UStG 1993 fallenden
Umsätzen u.a. die Ausfuhrlieferungen (§ 6 UStG 1993) steuerfrei.
Eine Ausfuhrlieferung liegt gemäß § 6
Abs. 1 Nr. 2 UStG 1993 vor, wenn bei einer Lieferung der Abnehmer den
Gegenstand der Lieferung in das Drittlandsgebiet, ausgenommen Gebiete nach
§ 1 Abs. 3 UStG 1993, befördert oder versendet hat und ein ausländischer
Abnehmer ist.
Gemäß § 6 Abs. 4 UStG 1993 müssen die
Voraussetzungen u.a. des Abs. 1 vom Unternehmer nachgewiesen werden. Das BMF
kann mit Zustimmung des Bundesrates durch Rechtsverordnung bestimmen, wie
der Unternehmer die Nachweise zu führen hat.
Das BMF hat von der Ermächtigung des § 6
Abs. 4 UStG 1993 in § 8 Abs. 1 UStDV Gebrauch gemacht. Danach muss bei
Ausfuhrlieferungen der Unternehmer im Geltungsbereich dieser Verordnung
durch Belege nachweisen, dass er oder der Abnehmer den Gegenstand der
Lieferung in das Drittlandsgebiet befördert oder versendet hat
(Ausfuhrnachweis). Dies muss sich aus den Belegen eindeutig und leicht
nachprüfbar ergeben. Diese Voraussetzungen sind vorliegend hinsichtlich der
streitigen Umsätze nicht erfüllt, weil die Ausfuhrnachweise gefälscht waren.
3. Eine ausdrückliche
Vertrauensschutzregelung sieht das UStG 1993 für diesen Fall, anders als in
§ 6a Abs. 4 UStG 1993, nicht vor.
a) Allerdings trifft § 6a Abs. 4 UStG 1993
eine Vertrauensschutzregelung für die innergemeinschaftliche Lieferung, die
wie folgt lautet:
"Hat der Unternehmer eine Lieferung als
steuerfrei behandelt, obwohl die Voraussetzungen nach Absatz 1 nicht
vorliegen, so ist die Lieferung gleichwohl als steuerfrei anzusehen, wenn
die Inanspruchnahme der Steuerbefreiung auf unrichtigen Angaben des
Abnehmers beruht und der Unternehmer die Unrichtigkeit dieser Angaben auch
bei Beachtung der Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns nicht erkennen
konnte. In diesem Fall schuldet der Abnehmer die entgangene Steuer."
b) Eine analoge Anwendung des § 6a Abs. 4
UStG 1993 auf Ausfuhrlieferungen kommt nicht in Betracht. Zum einen hat der
liefernde Unternehmer bei der Ausfuhrlieferung, anders als bei der
innergemeinschaftlichen Lieferung, die Möglichkeit, durch Ausfuhrbelege
nachzuweisen, dass der Gegenstand in ein anderes Land verbracht worden ist.
Darüber hinaus kommt die analoge Anwendung der Regelung über die
Steuerschuld des Abnehmers in § 6a Abs. 4 Satz 2 UStG 1993, die in
untrennbarem Zusammenhang mit der Vertrauensschutzregelung des § 6a Abs. 4
Satz 1 UStG 1993 steht, nicht in Betracht.
c) Da aber der leistende Unternehmer bei
der Ausfuhrlieferung dann vor einer mit dem innergemeinschaftlich Liefernden
vergleichbaren Situation steht, wenn die für die Befreiung erforderliche
Mitwirkung des Abnehmers (hier die Vorlage des Ausfuhrnachweises - Beleg der
Zollstelle -) manipuliert ist und der leistende Unternehmer die
Unrichtigkeit dieser "Angabe" des Abnehmers auch bei Beachtung der Sorgfalt
eines ordentlichen Kaufmanns nicht erkennen konnte, hat der Senat für diesen
atypischen Fall die Möglichkeit eines Billigkeitserlasses in Betracht
gezogen und deshalb dem EuGH die o.g. Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt.
4. Der EuGH hat daraufhin im Urteil in
BFH/NV Beilage 2008, 199 zu der Frage, ob im vorliegenden Sachverhalt die
gemeinschaftsrechtlichen Regelungen über die Steuerbefreiung von
Ausfuhrlieferungen in ein Drittland der Gewährung einer Steuerbefreiung im
Billigkeitswege durch den Mitgliedstaat entgegenstehen, Folgendes
ausgeführt:
"17 Wie sich aus dem einleitenden Teil von
Art. 15 der Sechsten Richtlinie ergibt, ist es Sache der Mitgliedstaaten,
die Bedingungen für die Anwendung der Steuerbefreiung einer Ausfuhrlieferung
nach einem Ort außerhalb der Gemeinschaft festzulegen. Nach dieser
Vorschrift setzen die Mitgliedstaaten zudem diese Bedingungen insbesondere
'zur Verhütung von Steuerhinterziehungen, Steuerumgehungen und etwaigen
Missbräuchen' fest.
18 Jedoch ist daran zu erinnern, dass die
Mitgliedstaaten bei der Ausübung der Befugnisse, die ihnen die
Gemeinschaftsrichtlinien übertragen, die allgemeinen Rechtsgrundsätze
beachten müssen, die Bestandteil der Gemeinschaftsrechtsordnung sind, zu
denen insbesondere die Grundsätze der Rechtssicherheit und der
Verhältnismäßigkeit sowie des Vertrauensschutzes zählen (vgl. in diesem
Sinne Urteile vom 18. Dezember 1997, Molenheide u.a., C-286/94, C-340/95,
C-401/95 und C-47/96, Slg. 1997, I-7281, Randnrn. 45 bis 48, vom 11. Mai
2006, Federation of Technological Industries u.a., C-384/04, Slg. 2006,
I-4191, Randnr. 29, und vom 14. September 2006, Elmeka, C-181/04 bis
C-183/04, Slg. 2006, I-8167, Randnr. 31).
(19) Zum Grundsatz der Verhältnismäßigkeit
hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass die Mitgliedstaaten gemäß
diesem Grundsatz Mittel einsetzen müssen, die es zwar erlauben, das vom
innerstaatlichen Recht verfolgte Ziel wirksam zu erreichen, die jedoch die
Ziele und Grundsätze des einschlägigen Gemeinschaftsrechts möglichst wenig
beeinträchtigen (vgl. Urteile Molenheide u.a., Randnr. 46, und vom
27. September 2007, Teleos u.a., C-409/04, Slg. 2007, I-0000, Randnr. 52).
(20) Demnach ist es zwar legitim, dass die
Maßnahmen der Mitgliedstaaten darauf abzielen, die Ansprüche der Staatskasse
möglichst wirksam zu schützen; sie dürfen jedoch nicht über das hinausgehen,
was hierzu erforderlich ist (vgl. u.a. Urteile Molenheide u.a., Randnr. 47,
und Federation of Technological Industries u.a., Randnr. 30).
(21) Hierbei ist darauf hinzuweisen, dass
auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer die Lieferer als Steuereinnehmer für
Rechnung des Staates und im Interesse der Staatskasse fungieren (vgl. Urteil
vom 20. Oktober 1993, Balocchi, C-10/92, Slg. 1993, I-5105, Randnr. 25). Sie
schulden die Mehrwertsteuer, obwohl diese als Verbrauchsteuer letztlich vom
Endverbraucher getragen wird (vgl. Urteil vom 3. Oktober 2006, Banca
popolare di Cremona, C-475/03, Slg. 2006, I-9373, Randnrn. 22 und 28).
(22) Das in Art. 15 der Sechsten Richtlinie
genannte Ziel, der Steuerhinterziehung vorzubeugen, rechtfertigt daher
mitunter hohe Anforderungen an die Verpflichtungen der Lieferer. Die
Verteilung des Risikos zwischen diesen und der Finanzverwaltung aufgrund
eines von einem Dritten begangenen Betrugs muss jedoch mit dem Grundsatz der
Verhältnismäßigkeit vereinbar sein (Urteil Teleos u.a., Randnr. 58).
(23) Dies scheidet aus, wenn ein
Steuersystem dem Lieferer unabhängig davon, ob er an dem vom Abnehmer
begangenen Betrug beteiligt war, die gesamte Verantwortung für die Zahlung
der Mehrwertsteuer auferlegt (vgl. in diesem Sinne Urteil Teleos u.a.,
Randnr. 58). Denn wie der Generalanwalt in Nr. 45 seiner Schlussanträge
ausgeführt hat, wäre es offenkundig unverhältnismäßig, einem
Steuerpflichtigen anzulasten, dass durch betrügerische Machenschaften
Dritter, auf die er keinen Einfluss hat, Steuereinnahmen entgehen.
(24) Dagegen verstößt es, wie der
Gerichtshof bereits entschieden hat, nicht gegen das Gemeinschaftsrecht,
wenn vom Lieferer gefordert wird, dass er alle Maßnahmen ergreift, die
vernünftigerweise von ihm verlangt werden können, um sicherzustellen, dass
der von ihm getätigte Umsatz nicht zu seiner Beteiligung an einer
Steuerhinterziehung führt (vgl. Urteil Teleos u.a., Randnr. 65 und die dort
angeführte Rechtsprechung).
(25) Dass der Lieferer gutgläubig war, dass
er alle ihm zu Gebote stehenden zumutbaren Maßnahmen ergriffen hat und dass
seine Beteiligung an einem Betrug ausgeschlossen ist, sind daher wichtige
Kriterien im Rahmen der Feststellung, ob er nachträglich zur Mehrwertsteuer
herangezogen werden kann (vgl. Urteil Teleos u.a., Randnr. 66).
(26) Ebenso verstieße es gegen den
Grundsatz der Rechtssicherheit, wenn ein Mitgliedstaat, der die
Voraussetzungen für die Befreiung einer Ausfuhrlieferung nach einem Ort
außerhalb der Gemeinschaft festgelegt hat, indem er u.a. eine Liste von
Unterlagen aufgestellt hat, die den zuständigen Behörden vorzulegen sind,
und der die vom Lieferer als Nachweise für das Recht auf Befreiung
vorgelegten Unterlagen zunächst akzeptiert hat, den Lieferer später zur
Zahlung der auf diese Lieferung entfallenden Mehrwertsteuer verpflichten
könnte, wenn sich herausstellt, dass infolge eines vom Abnehmer begangenen
Betrugs, von dem der Lieferer weder Kenntnis hatte noch haben konnte, die
Befreiungsvoraussetzungen tatsächlich nicht vorlagen (vgl. in diesem Sinne
Urteil Teleos u.a., Randnr. 50).
(27) Daraus folgt, dass der Lieferer auf
die Rechtmäßigkeit des Umsatzes, den er tätigt, vertrauen können muss, ohne
Gefahr zu laufen, sein Recht auf Befreiung von der Mehrwertsteuer zu
verlieren, wenn er wie im Ausgangsverfahren selbst bei Beachtung der
Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns außerstande ist, zu erkennen, dass die
Voraussetzungen für die Befreiung in Wirklichkeit nicht gegeben waren, weil
die vom Abnehmer vorgelegten Ausfuhrnachweise gefälscht waren."
An seiner gegenteiligen Rechtsprechung
(BFH-Beschluss vom 6. Mai 2004 V B 101/03, BFHE 205, 416, BStBl II 2004,
748) hält der Senat nicht fest.
5. Ob die Grundsätze des Vertrauensschutzes
die Gewährung der Steuerbefreiung gebieten, obwohl die Voraussetzungen einer
Ausfuhrlieferung i.S. des § 6 Abs. 1 UStG 1993 nicht erfüllt sind, kann nur
im Billigkeitsverfahren entschieden werden. Dem steht das Gemeinschaftsrecht
nicht entgegen.
Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH sind
mangels einer einschlägigen Gemeinschaftsregelung die Verfahrensmodalitäten,
die den Schutz der dem Bürger aus dem Gemeinschaftsrecht erwachsenden Rechte
gewährleisten sollen, nach dem Grundsatz der Verfahrensautonomie der
Mitgliedstaaten Sache der innerstaatlichen Rechtsordnung eines jeden
Mitgliedstaats (EuGH-Urteil vom 15. März 2007 Rs. C-35/05, Reemtsma, Slg.
2007, I-2425, Deutsches Steuerrecht/Entscheidungsdienst - DStRE - 2007, 570,
Randnr. 40, m.w.N.; vgl. auch EuGH-Urteil vom 19. September 2000 C-454/98,
Schmeink & Cofreth AG & Co. KG, Slg. 2000, I-6973, BFH/NV Beilage 2001, 33,
Randnrn. 65, 66, Leitsatz 2 zur Berichtigung von zu Unrecht in Rechnung
gestellter Mehrwertsteuer). Hat der nationale Gesetzgeber die
Berücksichtigung des Vertrauensschutzes und deren Voraussetzungen nicht
ausdrücklich, wie in § 6a Abs. 4 UStG 1993, im materiellen Recht geregelt,
eröffnen die Regelungen in § 163 AO und § 227 AO verfahrensrechtlich deren
Berücksichtigung im Einzelfall. Auch wenn sich der Steuerpflichtige, anders
als im vorliegenden Fall, bereits im Festsetzungsverfahren auf
Vertrauensschutzgesichtspunkte beruft, sind diese gleichwohl im
Billigkeitsverfahren zu berücksichtigen. Dabei wird das Ermessen der
Finanzverwaltung (§ 163 Satz 3 AO) regelmäßig dahingehend auszuüben sein,
dass die Entscheidung über die abweichende Festsetzung aus
Billigkeitsgründen mit der Steuerfestsetzung zu verbinden ist.
Hat der Steuerpflichtige alle ihm zu Gebote
stehenden zumutbaren Maßnahmen ergriffen, um sicherzustellen, dass die von
ihm getätigten Umsätze nicht zu einer Beteiligung an einer
Steuerhinterziehung führen, so ist das Verwaltungsermessen hinsichtlich der
Gewährung einer Billigkeitsmaßnahme auf Null reduziert. Zur Sicherstellung
einer richtlinienkonformen Anwendung des nationalen Rechts besteht daher
auch unter Beachtung von § 102 FGO eine insoweit uneingeschränkte
Überprüfbarkeit der Ermessensentscheidung des FA durch das FG.
6. Das FG ist von anderen Grundsätzen
ausgegangen; sein Urteil war daher aufzuheben. Die Feststellungen des FG
erlauben keine abschließende Entscheidung, denn das FG hat - von seinem
Standpunkt aus zu Recht - keine ausreichenden Feststellungen zur Frage
getroffen, ob die Klägerin alle ihr zu Gebote stehenden zumutbaren Maßnahmen
getroffen hat, um sicherzustellen, dass ihre Umsätze nicht zu einer
Beteiligung an einer Steuerhinterziehung führen. Bei seiner Würdigung wird
das FG auch den langen Zeitraum, in dem die Missbräuche stattgefunden haben,
zu berücksichtigen haben. Auch die Verdoppelung der Umsatzsteuererstattungen
im nichtkommerziellen Reiseverkehr von 1995 auf 1996 hätte ab diesem
Zeitpunkt Anlass zu Nachforschungen gegeben. Für die Zeiträume vor 1996
lässt sich aber aus diesem Gesichtspunkt nichts herleiten. Auch die
Rechtschreibfehler auf einigen der gesichteten Ausfuhrbelege sprechen
dagegen, dass die Klägerin alle ihr zu Gebote stehenden Maßnahmen gegen
einen Missbrauch ergriffen hat.
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