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BFH-Beschluss vom 14.7.2010 (XI R 27/08) BStBl. 2010 II S. 1117
EuGH-Vorlage zu den Voraussetzungen einer nicht steuerbaren
Geschäftsveräußerung im Ganzen
Dem
EuGH werden folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1.
Liegt eine "Übertragung" eines Gesamtvermögens i.S. von Art. 5 Abs. 8 der
Richtlinie 77/388/EWG vor, wenn ein Unternehmer den Warenbestand und die
Geschäftsausstattung seines Einzelhandelsgeschäfts an einen Erwerber
übereignet und ihm das in seinem Eigentum stehende Ladenlokal lediglich
vermietet?
2.
Kommt es dabei darauf an, ob das Ladenlokal durch einen auf lange Dauer
abgeschlossenen Mietvertrag zur Nutzung überlassen wurde oder ob der
Mietvertrag auf unbestimmte Zeit läuft und von beiden Parteien kurzfristig
kündbar ist?
UStG 1993 § 1 Abs. 1 Nr. 1 Satz 1, § 1 Abs.
1a; Richtlinie 77/388/EWG Art. 2 Nr. 1, Art. 5 Abs. 1 und 8, Art. 6 Abs. 5.
Vorinstanz: FG Münster vom 30. April 2008 5
K 3601/04 U (EFG 2008, 1413)
Sachverhalt
1
I. Sachverhalt
2
Streitig ist das Vorliegen
einer nicht steuerbaren Geschäftsveräußerung im Ganzen i.S. von § 1 Abs. 1a
des Umsatzsteuergesetzes 1993 (UStG).
3
Die Klägerin und
Revisionsbeklagte (Klägerin), Frau S., betrieb bis zum 30. Juni 1996 in
einem in ihrem Eigentum stehenden Ladenlokal ein Einzelhandelsgeschäft mit
Sportartikeln. Laut Rechnung vom 29. August 1996 veräußerte sie zum 30. Juni
1996 folgende Gegenstände zu den angegebenen Preisen an die Sport S. GmbH
(GmbH):
4
Warenübernahme laut
Übergabeinventur:
5
Die Klägerin wies in der
Rechnung keine Umsatzsteuer aus.
6
Das Ladenlokal vermietete
sie ab 1. August 1996 auf unbestimmte Zeit an die GmbH. Der Mietvertrag
konnte gemäß der gesetzlichen Kündigungsfrist von jeder Partei spätestens am
dritten Werktag eines Kalendervierteljahres zum Ablauf des folgenden
Kalendervierteljahres gekündigt werden.
7
Die GmbH führte das
Sportgeschäft fort und gab es zum 31. Mai 1998 auf.
8
Die Klägerin behandelte die
Veräußerung des Warenbestands und der Ladeneinrichtung als eine nach § 1
Abs. 1a UStG nicht steuerbare Geschäftsveräußerung im Ganzen und gab die
Erlöse daraus nicht in ihrer Umsatzsteuererklärung für das Jahr 1996 an.
9
Der Beklagte und
Revisionskläger (das Finanzamt - FA -) vertrat dagegen die Auffassung, dass
die Voraussetzungen einer Geschäftsveräußerung im Ganzen nicht vorgelegen
hätten, weil das Grundstück als wesentliche Geschäftsgrundlage nicht
mitveräußert worden sei. Er behandelte den Vorgang im
Umsatzsteueränderungsbescheid für 1996 als steuerbar und setzte die
Umsatzsteuer entsprechend fest.
10
Die Klage hatte Erfolg. Das
Finanzgericht (FG) war der Auffassung, dass die Übertragung des
Warenbestands und der Ladeneinrichtung nicht steuerbar sei. Die
Gesamtwürdigung der Umstände führe im Streitfall zum Vorliegen einer
Geschäftsveräußerung im Ganzen i.S. von § 1 Abs. 1a UStG. Der zwischen der
Klägerin und der GmbH abgeschlossene Mietvertrag habe eine dauerhafte
Unternehmensfortführung ermöglicht. Die GmbH habe das Unternehmen auch
tatsächlich als organische Einheit dauerhaft fortgeführt.
11
Mit seiner Revision macht
das FA im Wesentlichen geltend, der Warenbestand und die Ladeneinrichtung
stellten für sich allein kein hinreichendes Ganzes dar, um ein
Einzelhandelsgeschäft betreiben zu können. Ohne Ladenlokal sei der Betrieb
eines Einzelhandelsgeschäfts in der Regel nicht möglich. Eine dauerhafte
Fortführung des Unternehmens sei bei einem Mietvertrag mit gesetzlicher
Kündigungsfrist nicht gewährleistet.
12
Das FA beantragt sinngemäß,
das FG-Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
13
Die Klägerin beantragt
sinngemäß, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
14
II. Der Senat legt dem Gerichtshof der
Europäischen Union (EuGH) die im Leitsatz bezeichneten Fragen zur Auslegung
des Unionsrechts vor und setzt das Verfahren bis zur Entscheidung des EuGH
aus.
15
1. Die maßgeblichen Vorschriften und
Bestimmungen
16
a) Nationales Recht
17
Nach § 1 Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 UStG
unterliegen der Umsatzsteuer die Lieferungen und sonstigen Leistungen, die
ein Unternehmer im Inland gegen Entgelt im Rahmen seines Unternehmens
ausführt.
18
§ 1 Abs. 1a UStG bestimmt:
19
"Die Umsätze im Rahmen einer
Geschäftsveräußerung an einen anderen Unternehmer für dessen Unternehmen
unterliegen nicht der Umsatzsteuer. Eine Geschäftsveräußerung liegt vor,
wenn ein Unternehmen oder ein in der Gliederung eines Unternehmens gesondert
geführter Betrieb im Ganzen entgeltlich oder unentgeltlich übereignet oder
in eine Gesellschaft eingebracht wird. Der erwerbende Unternehmer tritt an
die Stelle des Veräußerers."
20
b) Unionsrecht
21
Nach Art. 2 Nr. 1 der Sechsten Richtlinie
77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der
Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern (Richtlinie
77/388/EWG) unterliegen Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen,
die ein Steuerpflichtiger als solcher im Inland gegen Entgelt ausführt, der
Mehrwertsteuer.
22
Nach Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie
77/388/EWG gilt als "Lieferung eines Gegenstands ... die Übertragung der
Befähigung, wie ein Eigentümer über einen körperlichen Gegenstand zu
verfügen".
23
Art. 5 Abs. 8 der Richtlinie 77/388/EWG
lautet:
24
"Die Mitgliedstaaten können die Übertragung
des Gesamtvermögens oder eines Teilvermögens, die entgeltlich oder
unentgeltlich oder durch Einbringung in eine Gesellschaft erfolgt, so
behandeln, als ob keine Lieferung von Gegenständen vorliegt und den
Begünstigten der Übertragung als Rechtsnachfolger des Übertragenden ansehen.
Die Mitgliedstaaten treffen gegebenenfalls die erforderlichen Maßnahmen, um
Wettbewerbsverzerrungen für den Fall zu vermeiden, dass der Begünstigte
nicht voll steuerpflichtig ist."
25
Nach Art. 6 Abs. 5 der Richtlinie
77/388/EWG gilt Art. 5 Abs. 8 der Richtlinie 77/388/EWG "unter den gleichen
Voraussetzungen für Dienstleistungen".
26
2. Zur Anrufung des EuGH
27
a) Nach der Rechtsprechung des EuGH
bezweckt Art. 5 Abs. 8 der Richtlinie 77/388/EWG, die Übertragung von
Unternehmen oder Unternehmensteilen zu erleichtern und zu vereinfachen (vgl.
EuGH-Urteil vom 27. November 2003 Rs. C-497/01 - Zita Modes -, Slg. 2003,
I-14393, BFH/NV Beilage 2004, 128, Rz 39). Der in dieser Bestimmung
enthaltene Begriff "Übertragung des Gesamtvermögens oder eines
Teilvermögens" erfasst die Übertragung eines Geschäftsbetriebs oder eines
selbständigen Unternehmensteils, die jeweils materielle und gegebenenfalls
immaterielle Bestandteile umfassen, die zusammengenommen ein Unternehmen
oder einen Unternehmensteil bilden, mit dem eine selbständige
wirtschaftliche Tätigkeit fortgeführt werden kann; er schließt jedoch nicht
die bloße Übertragung von Gegenständen wie den Verkauf eines Warenbestands
ein (EuGH-Urteil in Slg. 2003, I-14393, BFH/NV Beilage 2004, 128, Rz 40).
Der Erwerber muss darüber hinaus die Absicht haben, den übertragenen
Geschäftsbetrieb oder Unternehmensteil zu betreiben und nicht nur die
betreffende Geschäftstätigkeit sofort abzuwickeln sowie gegebenenfalls den
Warenbestand zu verkaufen (EuGH-Urteil in Slg. 2003, I-14393, BFH/NV Beilage
2004, 128, Rz 44).
28
b) In dem vom Senat zu entscheidenden
Rechtsstreit kommt es darauf an, ob die Klägerin mit der Übereignung des
Warenbestands und der Geschäftsausstattung sowie der Vermietung des
Ladenlokals, i.S. des Art. 5 Abs. 8 der Richtlinie 77/388/EWG ein
Gesamtvermögen an die GmbH "übertragen" hat.
29
aa) Der Senat geht davon aus, dass der
Begriff "Übertragung" des Gesamtvermögens oder eines Teilvermögens in Art. 5
Abs. 8 der Richtlinie 77/388/EWG, soweit er sich auf Gegenstände bezieht, an
die "Übertragung der Befähigung, wie ein Eigentümer über einen körperlichen
Gegenstand zu verfügen" (Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 77/388/EWG) anknüpft.
Das ergibt sich aus dem Regelungszusammenhang, in dem Art. 5 Abs. 8 der
Richtlinie 77/388/EWG steht (vgl. dazu EuGH-Urteil in Slg. 2003, I-14393,
BFH/NV Beilage 2004, 128, Rz 36).
30
Danach wäre die Vermietung des Ladenlokals
nicht als Teil der Übertragung des Sportgeschäfts zu berücksichtigen. Denn
die Klägerin hat der GmbH nur ein kündbares obligatorisches Nutzungsrecht
eingeräumt und nicht das (wirtschaftliche) Eigentum an dem Ladenlokal auf
die GmbH übertragen und somit das Ladenlokal nicht an die GmbH geliefert.
31
Jedoch gilt Art. 5 Abs. 8 der Richtlinie
77/388/EWG nach Art. 6 Abs. 5 der Richtlinie 77/388/EWG unter den gleichen
Voraussetzungen für Dienstleistungen.
32
So hat der EuGH ohne weiteres eine gemäß
Art. 5 Abs. 8 der Richtlinie 77/388/EWG nicht steuerbare
Geschäftsveräußerung in einem Fall angenommen, in dem das dem Erwerber
überlassene Betriebsgrundstück nur angemietet war (vgl. EuGH-Urteil vom 29.
April 2004 Rs. C-137/02 - Faxworld -, Slg. 2004, I-5547, BFH/NV Beilage
2004, 225, Rz 13, 29, 33).
33
bb) Der EuGH hat den Zweck des Art. 5 Abs.
8 der Richtlinie 77/388/EWG darin gesehen, zu vermeiden, dass die Mittel des
Begünstigten übermäßig steuerlich belastet werden (vgl. EuGH-Urteil in Slg.
2003, I-14393, BFH/NV Beilage 2004, 128, Rz 39).
34
Zwar würde es der Gleichbehandlung der
jeweiligen Erwerber dienen, wenn ihre steuerliche Belastung nicht davon
abhinge, ob der jeweilige Übertragende des Gesamt- oder Teilvermögens
Eigentümer des einem Erwerber überlassenen Geschäftsgrundstücks oder nur
dessen Mieter ist. Der Senat hat aber Zweifel, ob diesem Interesse ein
derartiges Gewicht beizumessen ist, dass unberücksichtigt bleiben kann, dass
der zurückbehaltene Teil des Gesamtvermögens geeignet ist, damit ein anderes
Unternehmen als bisher (nämlich im Streitfall nunmehr eine Vermietung) zu
betreiben.
35
Wäre eine Vermietung eines im Eigentum des
Übertragenden stehenden Gegenstands nicht zu berücksichtigen, hätte dies den
Vorteil der Rechtsklarheit. Denn es würde sich die Abgrenzung erübrigen,
wann von einer (nicht steuerbaren) Übertragung eines Gesamtvermögens und
wann von einer (steuerbaren) Vermietung oder Verpachtung eines Unternehmens
auszugehen ist.
36
cc) Sollte im Rahmen der Prüfung der
Voraussetzungen von Art. 5 Abs. 8 der Richtlinie 77/388/EWG die Vermietung
des Ladenlokals zu berücksichtigen sein, hält es der Senat für zweifelhaft,
ob an einen solchen Mietvertrag besondere - und gegebenenfalls welche -
Anforderungen zu stellen sind.
37
Nach der bisherigen Rechtsprechung des
Bundesfinanzhofs (BFH) kann eine Geschäftsveräußerung i.S. des § 1 Abs. 1a
UStG auch dann vorliegen, wenn einzelne wesentliche Betriebsgrundlagen nicht
mitübereignet worden sind. Voraussetzung ist aber, dass sie dem Unternehmer
langfristig zur Nutzung überlassen werden und eine dauerhafte Fortführung
des Unternehmens durch den Übernehmer gewährleistet ist (vgl. z.B.
BFH-Urteil vom 4. Juli 2002 V R 10/01, BFHE 199, 66, BStBl II 2004, 662).
Dem hat sich die Finanzverwaltung angeschlossen (vgl. Abschn. 5 Abs. 1 Sätze
6 bis 8 der Umsatzsteuer-Richtlinien).
38
Der BFH hat insoweit für eine langfristige
Nutzungsüberlassung eines Betriebsgrundstücks durch Vermietung eine fest
vereinbarte Mietdauer von zehn Jahren (vgl. Urteil vom 28. November 2002 V R
3/01, BFHE 200, 160, BStBl II 2004, 665, unter II.1.d) und von acht Jahren
(vgl. Urteil vom 23. August 2007 V R 14/05, BFHE 219, 229, BStBl II 2008,
165, unter II.2.c) ausreichen lassen.
39
Damit ist der Streitfall nicht
vergleichbar. Hier konnte der unbefristete Mietvertrag über das Ladenlokal
von jeder Partei spätestens am dritten Werktag eines Kalendervierteljahres
zum Ablauf des folgenden Kalendervierteljahres gekündigt werden.
40
Das FG Baden-Württemberg hat in einem
rechtskräftigen Urteil - unter Berufung auf das EuGH-Urteil in Slg. 2003,
I-14393, BFH/NV Beilage 2004, 128 und auf die dargelegte Rechtsprechung des
BFH - eine Vermietung eines im Eigentum des Übertragenden stehenden
Betriebsgrundstücks auf fünf Jahre nicht für hinreichend gehalten, um eine
dauerhafte "Fortführung" des Unternehmens annehmen zu können (vgl. FG
Baden-Württemberg, Urteil vom 28. September 2004 10 K 59/02, Entscheidungen
der Finanzgerichte 2004, 1833).
41
c) Die Klärung der aufgezeigten Zweifel zur
Auslegung von Art. 5 Abs. 8 der Richtlinie 77/388/EWG ist dem EuGH
vorbehalten; nur so kann eine von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat
unterschiedliche Anwendung des Mehrwertsteuersystems verhindert werden (vgl.
EuGH-Urteil in Slg. 2003, I-14393, BFH/NV Beilage 2004, 128, Rz 32).
42
3. Rechtsgrundlage für die Anrufung des
EuGH ist Art. 267 Abs. 3 des Vertrages über die Arbeitsweise der
Europäischen Union.
43
Die Aussetzung des Verfahrens beruht auf §
121 Satz 1 i.V.m. § 74 der Finanzgerichtsordnung.
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